Yvonnes Bilder: Die Blutfrau

Die Figur Yvonne im Buch WIEDERFINDEN ist Prostituierte und wird später Malerin. Malend reflektiert sie ihr Leben.

Die Bilder, die mich als Autorin dazu angeregt haben, hat Irina Wolff geschaffen.

Gerne möchte ich Irina Wolffs Bilder hier auf meinem Blog nach und nach vorstellen und die entsprechenden Yvonne-Texte aus dem Buch zitieren.

Textauszug:

Heute wandert Yvonne wieder einmal hinauf zu dem kleinen Dorf mit dem hübschen Kirchlein. Aufs Neue starrt sie den Gekreuzigten an und ihr Kopf wird leer, doch ihr Herz schwillt an mit heiligem Zorn. Laut und wieder auf Deutsch wütet sie gegen ihn: «Dein Blut für uns vergossen? Wieso musst du dich umbringen lassen, um uns zu vergeben? Ihr wollt Blut sehen. Ihr müsst Blut vergießen. Wozu?»

Sie schnauft, steht auf, läuft in der Kirche hin und her und beginnt von Neuem, diesmal noch lauter: «Ihr tötet und lasst euch töten, weil ihr das Blut der Frau missachtet, das einzige Blut, das Leben schenkt und nicht zerstört! Das ist das wirkliche heilige Blut! Unser Frauenblut ist es, das zu verehren wäre! Wir, nur wir Frauen, garantieren doch das ewige Leben mit unserem Blut, ohne töten zu müssen. Warum lässt du dich aufhängen?»

Dann setzt sie sich wieder und irgendwann kehrt ein wenig Ruhe in sie ein. Da meint sie, von irgendwoher ein Kichern zu hören. Sie lauscht. Es ist ein Kichern wie von Frieda oder Willemjin, oder bildet sie sich das nur ein? Kommt das von draußen oder von ihrem Inneren?

«Na gut», murmelt sie. «Nichts für ungut – trotzdem.»

Doch ihr Zorn ist noch nicht verraucht. An wen soll sie ihn richten, wo der Gekreuzigte doch selbst missbraucht wird? An die Pfaffen? Die Bischöfe? Die Priester? Wo sind sie? Sie läuft in der Kirche herum, geht nach draußen, will schon nachhause wandern, da kehrt sie wieder um und geht noch mal hinein in das Kirchlein. Nicht der leidende Jesus am Kreuz ist es jetzt, den sie anspricht, sondern die Bilder der Kirchenmänner, der Evangelisten, Apostel und wer sie alle sind, die da an den Wänden hängen. Sie rennt herum und fragt sich, warum sie ihren Zorn nicht abkühlen kann.

«Ihr habt die Liebe zerstört! Ihr habt die Liebe zerstört, indem ihr die Sinnlichkeit von ihr gerissen habt! Ihr habt die Liebe auseinandergerissen und sagt Agape zu ihr! Was für eine lächerliche Worthülse! Oder noch schäbiger: Nächstenliebe. Dann setzt ihr den Eros in den Käfig, verachtet seine schleimige Körperlichkeit, zeigt mit dem Finger auf ihn und sagt Schuld, Schuld, Schuld. Doch eure Agape ist blutleer und eure Nächstenliebe ein Verwaltungsakt. Ach – fickt euch!»

Zuhause malt sie ganz in Rot die Blutfrau, die voll erblühte, sexuelle Christusfrau, die im Sommer ihres Lebens steht und gleichwohl in tiefster Meditation versunken ist. Sie malt in diesem Bild ihre Mutter, wie sie hätte sein können, wenn man sie gelassen hätte. Sinnlich, liebend, ganz leiblich und doch voller Hingabe an das göttliche Innere.

Sie malt eine Verkörperung des Weibes an sich, die Frau, die das Blut ihres Leibes ehrt und daraus ihre tiefsten Kräfte schöpft, eine Frau ohne Angst vor ihrer weiblichen Potenz. Und der erotische Wille Gottes, der das ganze All durchflutet, bis hinein in jeden Grashalm und jedes pulsierende Herz, der durchströmt auch die Zellen dieser Frau, und sie lässt ihn strömen und dämmt ihn nicht ein.

Es ist die Frau, die weiß, dass ihre Würde darin liegt, Weib zu sein. Sie ist ein Sinnbild derer, die man seit Jahrhunderten quält, an den Pranger stellt, auf dem Scheiterhaufen verbrennt, der man die Kopfhaare abrasiert, die man mit theologischen Spitzfindigkeiten demütigt. Es ist diese ursprüngliche, machtvolle Weiblichkeit, die heute mit politischen Absurditäten eingegrenzt, verkleinert, entschärft, gedrosselt wird, indem man ihr einredet, sie könne ebenso Mann sein und umgekehrt.

Dann tritt Yvonne einen Schritt zurück von der Staffelei, tupft noch ein paar Pünktchen und Striche. «Und die seelenlose Sexbesessenheit der heutigen menschlichen Psyche geht auch auf das Konto von euch Pfaffen!»

Erst jetzt kehrt eine gewisse Entspannung ein und ihr Zorn ist besänftigt.

Als Yvonne ihre Pinsel ausgewaschen hat, geht sie ins Haus und will nach dem Rucksack ihrer Kindheit greifen. Doch sie lässt ihn liegen. Später einmal, denkt sie und geht wieder nach draußen. Über die Sinnlosigkeit dieses Gangs ins Haus, zum Rucksack und wieder zurück in den Garten denkt sie im Moment nicht nach. Im Pool überlegt sie, ob sie als heute fast Fünfzigjährige, dem Auftrag ihrer Mutter wohl gerecht geworden ist, die Liebe in allen Facetten zu leben. Und sie weiß, dass dies noch nicht der Fall ist. Es gibt noch eine dunkle Grube in ihrem Leben und sie hat keine Ahnung, wie sie da hinabsteigen kann.

Irina Wolff, Galerie

Zum Buch Wiederfinden

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