WORTE WIRKEN: Stolz wie Bolle, rot wie eine Tomate
Mein erstes Schulzeugnis! Ich war außer mir vor Begeisterung.
Mit den schicksalsträchtigen Ziffern 1-6 verschonte man uns Erstklässler noch. Wir erhielten eine schriftliche Einschätzung in ein bis zwei Sätzen.
Ich konnte schon lesen und ein Wort beeindruckte ganz besonders. Es war wundervoll und so unglaublich lässig. Ich platzte vor Stolz.
Mein Opa war der erste, der mir auf dem Hof entgegenkam.
Mit fliegenden Fahnen und flatterndem Zeugnis jubelte ich schon von Weitem:
„Opa, Opa, ich bin nachlässig!“
„So so“, sagte Opa und nahm mein Zeugnis entgegen.
Ergriffen würde er mir auf die Schulter klopfen, daran hatte ich keinen Zweifel.
Leider konnte ich da nur ein feines Grinsen auf seinem Gesicht sehen, dann meinte ich sogar, ein paar Falten auf seiner Stirn zu entdecken.
Legen wir also – mit Mark Twain gesprochen – einen Schleier des Erbarmens über den Ausgang der Geschichte.
Ich hatte ein Wort mit meinen eigenen Gefühlen gefüllt.
Wörter beliebig mit Inhalt zu füllen, sie auszutauschen oder gar mit Tabu belegen, ist sonst die Arbeit von Werbung und Propaganda.
Arbeitgeber – Arbeitnehmer. Sollte es nicht umgekehrt sein?
War das Verteidigungsministerium nicht einmal ein Kriegsministerium?
Als das Wort Propaganda schmutzig wurde,
ersetzte Edward Bernays es mit Public Relations.
Edward Bernays, der Neffe von Siegmund Freud, gilt als Großmeister auf diesem Gebiet.
Ihm gelang es, mit dem Slogan „Torches of freedom” (Fackeln der Freiheit), das Tabu von rauchenden Frauen nachhaltig zu brechen.
Später hat er eine Anti-Raucher-Kampagne lanciert.
Unter dem Motto Make the world safe for democracy gelang es ihm 1917, der kriegsmüden Öffentlichkeit den Kriegseintritt der USA schmackhaft zu machen.
kriegsmüde, friedensverwöhnt, friedenssatt … was für Worte im Jahr 2024!
In den fünfziger Jahren begann in den USA ein erbitterter „Kampf gegen links“, der bis in die siebziger Jahre hineinreichte und um die ganze westliche Hemisphäre ging.
Die Richtungen sind austauschbar, der Inhalt ebenso.
Das Nachlässige habe ich übrigens von meinem Vater. Deshalb hat meine Mutter dieses N-Wort durch ein freundlicheres ersetzt: Sie sagte großzügig dazu.
Ein schönes Wochenende wünsche ich Ihnen
Bleiben Sie lässig bei großen Worten.
Ihre Lea Söhner
PS: Meinen Opa habe ich sehr geliebt. Die Art, wie er gestorben ist, würde man heute als selbstbestimmt bezeichnen.
Aber das Gegenteil war der Fall: Er gab sich hin.
Seine Geschichte erzähle ich in meinem Buch „Die Vögel singen weiter“
Salve Lea, wieder so treffend! Wörter gehören auch einem selbst. Nachlässig – großzügig, ich hoffe, dass du beides bist, auch ein wenig ver-rückt! Wie gesund! Und bei wem eine Schraube locker sitzt, bei dem hat das Leben auch ein bisschen mehr Spiel. Das schreibt dir eine, die auch nie NETT sein wollte, Karin
Herzlichen Dank für den Kommentar, Karin! Dummerweise war ich eine, die immer NETT sein wollte, und der dies nie richtig gelang!