Gewissenlose Moral

Über das Gewissen

Den Gehorsam über das eigene Gewissen zu stellen ist älter als das dunkle Kapitel deutscher Geschichte.

Dass Mythen gleichsam als Software einer Kultur wirken, wird am Beispiel des biblischen Mythos von Abraham in Rembrandts Bildern gezeigt. Auch lässt sich gewissenlose Moral im Fall der Kindsmörderin Katharina Höhn in Goethes Weimar zeigen. Was hat Goethe sich dabei gedacht? 

Dass Gehorsam mehr wiegen soll als innere Ethik ist schon in den Grundzügen unserer Kultur angelegt.

Weimar 1783: Auf den Gassen, in den Zeitungen und vor allem im Rat stand die Frage, ob die Kindsmörderin Katharina Höhn durch Enthauptung hinzurichten oder zu begnadigen sei.

Goethe war am Ende das Zünglein an der Waage, das letztlich zu ihrer Hinrichtung geführt hatte. So hat es Goetheforscher Daniel Wilson herausgefunden.

Katharina Höhn war die letzte Kindsmörderin, die getötet wurde. Schon damals waren sozialkritische Gedanken im Umlauf. Auch Katharina Höhn hatte in allerhöchster Not gehandelt.

Es kam zu gewichtigen Eingaben, sie zu begnadigen. Diese wurden im damaligen Rat besprochen und abgestimmt. Selbst der Herzog war für Begnadigung.

Goethe hatte einen Aufsatz dazu verfasst, der leider verschollen ist.

Vermutlich hat dieser Aufsatz aber dazu geführt, dass die junge Frau am Ende mit dem Schwert enthauptet wurde.

Dass Goethe vom Thema des Kindsmords fasziniert war, zeigt sich auch bei seinem Gretchen im Faust.

Relativ unbekannt ist, dass der junge

Jurastudent Johan Wolfgang dem Prozess und der Hinrichtung einer Kindsmörderin in Frankfurt beigewohnt und genaue Notizen gemacht hat.

Samt und sonders waren die Motive der Kindsmörderinnen in früherer Zeit allerhöchste Verzweiflung und tiefste Not.

Kindsmord auf Befehl

Eine völlig andere Natur von Kindsmord – vielmehr die Bereitschaft zum Kindsmord – ist der von Abraham an seinem Sohn Isaak. Es handelt sich hier um Kindsmord auf Befehl.

Während die verzweifelten Frauen damals enthauptet, verbrannt oder sonst auf eine grausame Art getötet und vorher vermutlich gefoltert und gedemütigt wurden, wird Abraham für seine Gottesfürchtigkeit bis heute geehrt.

Er ist der Stammvater aller drei mosaischen Religionen geworden.

„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.“

Dieses Goethewort, das den Gehorsam über das Gewissen stellt, mag als Überleitung vom dem einen zum anderen Kindsmord dienen.

Angeregt von einem im „Radio München“ eingelesenen philosophischen Artikel Dr. Heinrich Leitners, blicke ich auf meine Weise auf die beiden Bilder Rembrandts zum Thema Isaaks Opferung.

Sie haben dasselbe Motiv, sehen fast gleich aus und befassen sich auf sehr unterschiedliche Art mit dem Abrahamitischen Beinahe-Kindsmord.

Die Opferung, Rembrandt van Rijn 1635, St. Petersburg

Das Gemälde in St. Petersburg wurde 1635 erstellt und ist vermutlich eine Auftragsarbeit.

Das andere, das in der Pinakothek München hängt, war wohl als Kopie gedacht, wurde aber entscheidend verändert. Es stammt aus dem Jahr 1636.

Die Opferung, Rembrandt van Rijn 1636, Pinakothek München

Es ist unsicher, ob dieses zweite Bild, also die Kopie, von einem Schüler erstellt worden ist.

Sicher ist aber, dass Rembrandt selbst noch daran gearbeitet hat, denn es gibt eine Signatur, die auf diese Tatsache hinweist:

Milgram Experiment REmbrandt

„Rembrandt verandert und overbebildert“ (Digital aufbereitet) 

Was ist nun die Stimme Gottes,

die Abraham zur Ermordung seines Sohnes aufrief?

Immanuel Kant meint dazu:

Darüber, dass Gott zum Menschen spricht und nicht der Mensch mit sich selbst, darüber könne der Mensch niemals letzte Gewissheit erlangen.

„…wenn das, was ihm durch sie (die Stimme Gottes) geboten wird, dem moralischen Gesetze zuwider ist, so mag die Erscheinung ihm so majestätisch, und die ganze Natur überschreitend dünken: er muss sie doch für Täuschung halten.“

Was mir zuerst ins Auge springt, wenn ich beide Bilder anschaue, ist die Art, wie Abraham mit brutaler Macht ins Gesicht des Sohnes greift.

Er will nicht in das entsetzte Gesicht seines Kindes schauen bei seiner grausigen Tat.

Er will nicht die Todesangst in den Augen Isaaks sehen.

Er will auch nicht das Grauen darüber sehen, dass der eigene Vater ihn abschlachten wird wir ein Schaf.

Abraham muss seinen Sohn selbst zum Schlachttier machen.

Er muss seinen Sohn entmenschlichen, damit er den vermeintlich göttlichen Befehl ausüben kann.

Wir wissen aus der Propagandaforschung, dass Krieg nur möglich wird, wenn man den Feind entmenschlicht.

Daniele Ganser erläutert dies in seinen Vorträgen und Büchern anschaulich und wenn wir aufmerksam der momentanen Kriegspropaganda in den deutschen Medien folgen, können wir es selbst sehen.

Der zu tötende Mensch muss zuvor aus der Menschheitsfamilie ausgeschlossen werden, es muss ihm das Menschsein abgesprochen werden.

Sind wir für Waffenlieferungen in die Ukraine? In dem Fall würde sich ein zweiter Blick auf Rembrandts beide Gemälde lohnen.

Die Menschen, die mit unseren Waffen getötet werden – auf beiden Seiten – sind für uns gesichtslos. Man macht sie uns unsichtbar in ihrer Todesangst und in ihrer Qual, in ihrem Zerfetzt-werden, in der Trauer ihrer Angehörigen.

Rembrandt zeigt hier ein allgemein menschliches Thema:

Der Mensch ist von Natur aus nicht böse, sondern gut. Der normale Mensch will einen anderen Menschen nicht töten.

Normale Menschen dazu zu bringen, Böses zu tun, dafür braucht es eine Gehorsams-Religion oder die Propaganda.

Isaaks Körper ist bei beiden Bildern hell erleuchtet im Vordergrund. Auf dem zweiten, dem Münchner Bild ist der Körper sogar noch heller, noch weißer also noch ungeschützter, noch ausgesetzter dargestellt.

Wenn die eigenen Eltern Hand an ihr Kind legen, sei es durch Missbrauch, durch Verrat, durch Vernachlässigung oder wie hier durch Mord, gibt es für die Kinder keinen Schutz mehr.

Nun aber zu den Unterschieden zwischen den beiden Bildern

Das St. Petersburger Bild 1635

Hier wird der Engel in prächtigem Gewand mit fein ziseliertem Pelzbesatz dargestellt.

Er (in diesem Fall sie) legt Abraham zart die Hand auf den Arm, als würde eine Frau ihren Ehemann besänftigen und sagen wollen: lass mal gut sein.

Der Blick der Engelfrau fällt nicht auf Abraham, sondern bestenfalls auf Isaak.

Ihr Gesichtsausdruck ist ernst, aber gelassen, wie eine Botin des Himmels kommt sie daher.

Sie ist eine, die gesendet wurde ohne eigene Botschaft.

Sie hat Abraham von seinem Mord abzuhalten, er hat seine Prüfung bestanden und jetzt kann alles gut werden.

Der Gesichtsausdruck auf Gemälden ist bei den alten Meistern eine Art „Tonspur“ ihrer Gedanken hinter den Bildern.

Abrahams Ausdruck auf eben diesem St. Petersburger Bild ist eher erstaunt, als würde er fragen wollen, ob er etwas falsch gemacht hätte.

Er sucht mit seinem Blick den Engel und bezieht sich auf ihn.

Das Gesicht möchte sagen, er hätte es getan. Er wäre bereit gewesen.

Er ist sich seines unerschütterlichen Gehorsams gegen Gott sicher.

In Abrahams Gesicht ist noch kein eigenes Erkennen zu bemerken.

Er sieht noch nicht die monströse Tat, die er im Begriff war, auszuführen.

So ist er noch ganz auf das Außen, auf den majestätischen Befehl Gottes ausgerichtet.

Abrahams Gesicht ist das eines Mannes mit Kadavergehorsam ohne Nachfrage, ohne Zögern. Er schickt sich an, die grausamste aller vorstellbaren Taten zu begehen. Wie anders wird dieses Gesicht im zweiten Bild ein Jahr später ausschauen!

Hier können wir noch den Prototypen eines fundamentalistischen Selbstmordattentäters sehen.

Doch wenn wir diesen Mythos zeitkritisch betrachten und unsere eigenen Lehren daraus ziehen wollen, müssen wir die letzten drei Jahre ins Feld ziehen.

Misstrauen ist angebracht bei den Stimmen von Politik und Medien, nicht dass sie uns noch als moderne Stimmen Gottes daherkommen und uns zu Taten verführen, die wir nicht begehen wollten.

Gerne dürfen wir auch einen Schritt zurück treten, weg vom Politischen, hin zur Selbsterforschung:

Wo müssten wir manchmal unserem eigenen inneren Saboteur in die Hände fallen? Und wie oft haben wir unser so genanntes „inneres Kind“ schon getötet und verletzt?

Rembrandt selbst wird sich im ersten Bild mit der Bibelstelle auseinandergesetzt und diese entsprechend abgebildet haben.

Schon da gelingt es ihm, die Drastik zu zeigen, die in diesem beabsichtigten Kindermord liegt.

Doch während dieses einen Jahres bis zum nächsten Bild muss im Künstler selbst eine eigene innere Auseinandersetzung mit dem Thema stattgefunden haben.

Jetzt kommt eine völlig andere Note in das Erzählbild.

Rembrandt hat im Jahr 1636 seinen ersten Sohn zu Grabe tragen müssen.

Hat ihn das wohl noch einmal erkennen lassen, welche Monstrosität in der alttestamentarischen Erzählung steckt? Hat er sie deshalb übermalt?

Das Münchner Bild von 1636:

Das Gesicht des Engels ist nicht mehr gelassen.

Er kommt dramatisch und überraschend hinter Abrahams Rücken hervor. Was tust du da? scheint er zu fragen. Bist du des Wahnsinns? Wie kannst du nur glauben, dass Gott einen Mord von dir verlangt?

Auch die Hand, die Abraham von seinem Tun abhält, ist nicht einfach nur sanft aufgelegt, sondern arretierend, festhaltend.

Die linke Hand wird hier gemeinhin interpretiert, als nach oben, in den Himmel auf Gott verweisend.

Man könnte darin auch eine Verstärkung der rechten Hand sehen: Der Engel würde Abraham im Notfall mit beiden Händen von seinem schrecklichen Vorhaben abbringen.

Der Gesichtsausdruck dieses Engels könnte als entsetzt angesehen werden.

Weinerlich, schreibt Christoph Ranzinger. Als weinerlich würde ich es nicht bezeichnen, eher als streng, mitleidsvoll, erschrocken.

Während der Engel im ersten Bild nicht auf Abraham blickt, dieser aber fragend auf den Engel, ist es hier umgekehrt: der Engel schaut direkt auf Abraham.

Dieser sucht aber nicht den Blick des Engels.

Die Veränderung in Abrahams Ausdruck ist im Vergleich zum ersten Bild entscheidend.

Er braucht nicht mehr nach außen zu schauen, nicht mehr auf den Engel, um zu fragen, ob er etwas falsch macht.

Jetzt erkennt er das ganze Ausmaß dessen, was er gerade im Begriff war zu tun, aus einem inneren Prozess heraus.

Heinrich Leitner interpretiert den Engel in diesem Bild als das Gewissen Abrahams.

Damit ist der entscheidende Unterschied zum ersten Bild genannt.

Der Engel dort ist ein Bote Gottes, einer, der Abraham lediglich den Folgebefehl erteilt. Okay okay, alles gut, war nicht so gemeint, mach mal halblang, um es salopp auszudrücken.

Im zweiten Bild hat Abrahams Gewissen über seinen Kadavergehorsam gesiegt.

Er beendet sein mörderisches Vorhaben nicht aufgrund eines weiteren äußeren Befehls, sondern aus seinem Gewissen heraus.

Ob er erkannt hat, dass Gott ein liebender Gott ist und keine solchen Befehle erteilen würde, wie Ranzinger schreibt, sei dahin gestellt.

Auch ohne gottesgläubig zu sein, können wir sowohl den biblischen Mythos als auch die beiden Bilder Rembrandts lesen und verstehen, denn Mythen sind die Software unserer Kultur.

Wir sind nun mal kulturhistorisch im christlich-jüdischen Abendland verankert und funktionieren entsprechend.

Dies zu erkennen und das eigene Gewissen über die Moral zu stellen, ist das Mindeste, was wir daraus lernen können.

Gerade in der heutigen übermoralisierten Zeit ist das eigene Gewissen leicht zu überhören.

Zurück zum Anfang und zu Goethe.

Leider hat er sein persönliches Geheimnis mit ins Grab genommen.

Die Frage bleibt offen, welcher gewissenlosen Moral er gefolgt ist, als er sich im Fall der Katharina Höhn für die Hinrichtung entschieden hat.

Dabei wäre es nicht nötig gewesen. Es hätte nicht einmal besonderen Mut gebraucht, denn der Herzog selbst war für die Begnadigung.

Goethe war gewiss kein Mensch, der eine perverse Freude an Grausamkeiten hatte.

Im Gegenteil – am Tag der Hinrichtung war er nicht in Weimar. Das wollte er sich dann doch nicht antun.

Gretchen, die verführte Kindsmörderin bei Goethes Faust

Goethe hatte keinen Befehlsgeber, der ihm eine solche Tat hätte befehlen können.

Weder musste er Gottes Stimme vernehmen, denn er nannte sich selbst einen Heiden. Noch zwang ihn die Stimme der Obrigkeit, noch die seiner eigenen Moral, denn er war einer der unabhängigsten Denker des Abendlandes und ist es bis heute.

Die innere menschliche Bewegung für eine solche Art von Schreibtischtat könnte ein gutes Motiv für ein Goethe’sches Drama selbst sein. Ob er es irgendwo in seinen Schriften verarbeitet hat?

Diese Schreibtischtat passt auch nicht zu Hannah Ahrends Analyse Eichmanns (Die Banalität des Bösen), Goethe war zwar Beamter, aber gewiss kein naiver, kein subalterner.

Goethe ist ein Dichter, der mit seinem Werk tief in die menschlichen Abgründe geblickt hat. Hat er seine eigenen Abgründe übersehen?

Und eine letzte Frage noch: Wäre er bei einem normalen Mörder auch gegen eine Begnadigung gewesen? Oder war das nur die Faszination am Kindsmord?

All diese Fragen bleiben offen.

Sicher ist:

der Kindsmord ist nicht nur ein kulturhistorisches oder sozial- und sittengeschichtliches Problem. Es ist auch ein kultisch-religiöses Thema. Bis heute. Vielleicht müssen wir an dieser Stelle bei Goethe suchen.

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Literatur:
Christoph Ranzinger, Begegnung Online
Radio München
Daniel Wilson, Das Goethe-Tabu

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