Die Sehnsucht nach dem Lebendigen – Mit Goethe in Zeiten des Denkverbots

Mit Goethe in Zeiten des Denkverbots

Kulturelle Aneignung – ja bitte!

Die Autorin plädiert dafür, die Werke von Goethe, Schiller, Nietzsche nicht den Intellektuellen zu überlassen. Wir sollten uns unsere eigene Hochkultur neu aneignen, gerade in diesen verrückten Zeiten.

Jetzt, wo der Wahn-Sinn überhandnimmt, ist es eine Frage der Würde, sich dem Lebens-Sinn zuzuwenden.

Wenn nur Schwarz oder Weiß zählt und das Vielschichtige ins verschwommene Reich der Esoterik gestoßen wird, wenn das eigene Denken nicht mehr opportun ist und wenn das früher einmal positive Querdenken unversehens „rechtsextrem“ geworden ist,  tut es zuweilen gut, mit einem Goethegedicht auf den Lippen spazieren zu gehen.

Vom Gedicht «Selige Sehnsucht» ist vor allem der letzte Vers bekannt, der Rest sei schwierig zu interpretieren, liest man immer wieder.

Doch so schwierig ist es nicht. Wenn man es vor sich hinsagt und wenn man mit dem Herzen hineinhört, schließt es sich nach und nach auf und gibt in einzelnen Tropfen seine Weisheit preis.

Selige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

Es beginnt damit, dass Weisheit nur von jenen zu verstehen ist, die darauf lauschen. Von der Menge wird alles verhöhnt, dessen Substanz nur unter der Oberfläche gefunden werden kann.

Das Nachdenken verlangt einen Schutzraum, damit es nicht von der Öffentlichkeit ins Lächerliche gezogen werden kann.

In diesem Sinn mag das Gedicht zeitgemäß sein. Wenn man unsere Epoche mit etwa der Goethes vergleicht, könnte man schon auf die Idee kommen, dass das eigenständige Denken heute verpönt, ja fast verboten ist.

„Die Wahrheit beginnt zu zweit“,

sagt Platon. Sie ist also nicht feststehend und muss ständig im Dialog errungen werden. Wo haben wir heute freie Räume des gemeinsamen Nachdenkens? So etwa wie es früher die Salons gewesen sind? Oder auch die Universitäten?

Das Lebend’ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet, ist ein merkwürdiger Gedanke, er ist die Vorausschau, die Überschrift, deren Erklärung in den nächsten Zeilen folgt.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Die beschreiben die dumpfe Welt der Motten, deren einziger Daseinszweck es ist, im Dunkeln eine Generation an die andere zu reihen. Doch ab und zu erwacht in einer von Tausenden eine Sehnsucht danach, über sich hinaus zu wachsen und diese Sehnsucht ist ein Sog, dem sich diese Einzelne nicht entziehen kann. Sie fliegt, vom hellen Licht der Kerze angezogen – und verbrennt darin.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Liegt nicht in uns allen die Sehnsucht, über uns hinauszuwachsen, ohne die ständige Vorsicht um Leib um Leben? Aufzubrechen und unsere Bestimmung zu leben, ohne darauf zu achten, ob man dafür in der Luft zerrissen wird? Ohne Angst, dass man medial oder gar wirtschaftlich vernichtet wird, wenn man dies und jenes erwägt, das nicht innerhalb des heute sehr engen Flaschenhalses des Erlaubten liegt?

Wir spüren diese Sehnsucht nicht mehr, weil wir zu sehr am Vorgegebenen hängen, an dem, was man uns als „richtig“, als „solidarisch“, als „gut“ verkauft, wir hängen an unserem Leben, an unserem Ruf, an unserem trauten Kreis, an unserer materiellen Existenz.

Die heutige atheistische Wissenschaft, hält uns gefangen in der Materie. Über sich hinauswachsen braucht aber ein Bild von sich selbst, das über das Materielle hinaus geht ins Transzendente.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Goethes Gedicht endet …

…mit einem seiner wohl bekanntesten Verse, dem Gedanken des Stirb und Werde, dem wir unterliegen, das wir aber selten „haben“. Wir bleiben lieber trübe Gäste in der dunklen Welt der Motten.

Lebendig sind wir doch nur, wenn wir der Sehnsucht unserer Herzen folgen ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Angst vor Einkommensverlust oder dem Verlust von materieller Sicherheit, Ruf und Ehre.

Ist es nicht auch die Sehnsucht nach der Transzendenz, die uns lebendig macht, das Streben nach dem Höheren? Nach der Freiheit, die zu werden, die wir sind: Strahlen der göttlichen Sonne.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Van Gogh, Nietzsche, Mozart, Hölderlin, Kleist und viele andere sind ihrem Genie gefolgt, ohne Rücksicht darauf, daran zugrunde zu gehen. Sie sind daran zugrunde gegangen und haben uns die größten Kulturschätze hinterlassen, von denen die ganze Welt bis heute zehrt.

Auch Giordano Bruno war so ein Nachtfalter des Geistes. Als einer der größten Denker der Menschheitsgeschichte hat er sich weit über das damals Erlaubte hinausgewagt und ist im wahrsten Sinn des Wortes lebendig verbrannt.

Und hat Nietzsche mit seinem Übermenschen nicht genau das gemeint?  Einzelne, die über sich und ihre Ängste hinauswachsen und in Kauf nehmen, daran zugrunde zu gehen?

Heute werden wir noch nicht mit dem physischen Tod bedroht. Keiner wird bei lebendigem Leib verbrannt. Auf dem Scheiterhaufen der Medien wird man jedoch schnell verbrannt. Auch die materielle Existenz steht sofort auf der Kippe, wenn man einige Zentimeter über das Erlaubte hinausdenkt und dabei eine gewisse Reichweite erringt.

Einige Beispiele sind schnell gefunden: Sucharit Bakhdi, Ulrike Guerot, Daniele Ganser. Es gibt noch viele.

Nietzsche, der ja auch von Goethe inspiriert war, hat einen schönen Gegensatz zu seinem Übermenschen geschaffen: Der letzte Mensch.

Mit Nietzsches Beschreibung des letzten Menschen lässt sich die Erläuterung des Goethegedichts gut abschließen. Die letzten Menschen sind die, die lieber im warmem Sumpf der Motten bleiben. Ein Schelm, der an unsere heutigen Zeiten denkt.

Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – So fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.

«Wir haben das Glück erfunden» – sagen die letzten Menschen und blinzeln. (…)

Ein wenig Gift ab und zu, das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben. (…)

Man ist klug und weiß alles, was geschehen ist: so hat man kein Ende zu spotten. (…) Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit.

Das Gedicht ist übrigens zu finden im West-östlichen Diwan Goethes.
Der letzte Mensch im Also sprach Zarathustra

5 Kommentare

  1. Johanna 6. November 2022 at 18:12 - Antwort

    Ein ganz besonderes Gedicht und eine sehr schöne, einfühlsame Interpretation.
    Zum“Nachtfalter des Geistes“ Giordano Bruno gibt es übrigens auf Youtube einen interessanten Vortrag zu seinem 400.Todestag, gehalten von Jochen Kirchhoff.

  2. Helmut 28. Februar 2023 at 11:56 - Antwort

    Gerade habe ich den Potcast in SWR1 gehört und dann etwas gegoogelt. bis ich schließlich hier gelandet bin. Zunächst danke für die Inspiration in SWR 1.
    Zu dem Gedicht von Goethe und zu der Interpretation: Sehr gelungen und herausfordernd. Ich persönlich möchte mich nicht in die helle Flamme stürzen und verbrennen, weil ich einer hellen Idee nachjage.
    ich bin so dankbar, dass ich in relativer Sicherheit hier in Deutschland leben darf und ich persönlich keinen Existenzkampf führen muss, wirtschaftlich abgesichert, gesund und neugierig auf die Welt. Das ist meine Basis von der aus ich starte und die Welt erkunde; zu wissen, dass bei meiner Rückkehr genügen Holz vor der Hütte ist, um am Abend vor dem Ofen das erlebte zu verarbeiten. Eingehüllt in warme Gedanken und dankbar, dass das Feuer mich nicht verbrennt, sondern in geregelter Luftzufuhr eine Komfortzone ist, die ich dankbar genießen kann.
    So stürze ich mich voll Begeisterung in das dunkle des Antihelden und bin gerne ein trüber Gast auf Erden. Das Leben ist für mich zu kostbar, um mich im hellen Ideal zu sterben.

    • Lea Söhner 28. Februar 2023 at 18:22 - Antwort

      Lieber Herr Rick, danke für Ihren Kommentar! Das ist sehr schön. Mir geht es auch so: das Leben ist zu kostbar. Doch manchmal hat man vielleicht einen Anflug davon: mutig die Grenzen sprengen, koste es was es wolle. Und nebenbei: Goethe war auch keiner, der sich in die Flamme geworfen hat. Er war ein „Genie der Selbsterhaltung“ (Stefan Zeweig). Er hat auch das Leben geliebt. Allerdings hat er mit dem Gedicht das Prinzip des Themas gut dargestellt. Und aus dem Gedicht verstehe ich auch Nietzsches „Übermenschen“ besser.

  3. Christoph S. 1. März 2023 at 14:44 - Antwort

    Eine sehr treffende Interpretation von Goethes Gedicht, finde ich. Wenn ich darüber nachdenke, dann glaube ich aber doch, dass sich nur die Zeiten und Bedingungen geändert haben, nicht die „Mottenhaftigkeit“ der Menschen. Früher waren es eben andere Dinge wie enge gesellschaftliche Zwänge, der stärkere Einfluss von Kirche und Staat, das allgemeine Wohlstands – und Bildungsniveau, was das eigene Denken und die persönlichen Freiräume beschränkt hat.
    Die meisten Menschen werden wohl damals wie heute ausgelastet sein mit dem alltäglichen Kampf. Wenn auch beim Einen oder anderen diese tiefe Sehnsucht nach mehr da sein mag.
    In unserer heutigen schnelllebigen Zeit ist die Stille freilich genauso rar geworden wie das Verstehen, dass Erkenntnis und Verstehen erst aus der Langsamkeit und Stille erwachsen können. Aus dem Zuhören, Reflektieren und erst dann antworten.
    Die enormen Fortschritte der Technik haben uns zunehmend Sand in die Augen gestreut und glauben lassen, dass technische Fortschritte gleich intellektueller wären.
    Ich denke, es braucht keinen Übermenschen und kein Verbrennen, aber Mut und Kraft, sich gegen den Sog zu stemmen des immer schneller, immer mehr und immer oberflächlicher, gegen die ganze heutige Klugsch…. von sogenannten Influencern und Besserwissern, dem ganzen Oberflächengekratze, gegen die Mehrheitsmeinung, dass darin und im Außen der Lebenssinn liegen würde.
    Dabei dürfen und sollten wir noch dankbar sein, dass wir noch in einem freiheitlichen Land leben, in dem es keine Denkverbote gibt wie anderswo. Es liegt an uns wie wir unsere Freiheit nutzen. Andere Menschen muss man wohl nehmen wie sie sind.

    • Lea Söhner 2. März 2023 at 9:15 - Antwort

      Vielen Dank Christoph S, für Ihren Kommentar. Ja, die Mottenhaftigkeit ist ein Phänomen, das die Zeiten überdauert. Tragen wir sie nicht alle in uns? UND gleichzeitig den inneren Traum von Licht? In diesem Gedicht haben noch viele weitere Interpretationen Platz. Wir könnten darin auch die spirituelle Sehnsucht sehen, die in uns lebt, und für die wir, sollten wir sie einmal sehen, unsere körperliche Hülle und unser Ego loslassen müssen. Das wäre unser leiblicher Tod. Ja und der Übermensch: Irgendwann einmal will ich den Versuch unternehmen, ihn besser zu verstehen. Es gärt schon ein Weilchen in meinem Kopf.

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