WORTE WIRKEN: Vom Mittelpunkt der Welt
Vom Mittelpunkt der Welt: Eine Nabelschau
Wer ganzjährig in einem touristischen Sommer-Hotspot lebt, empfindet die Jahreszeiten nicht nur durch den Wandel der Natur.
Ich spreche hier nicht von der Fahrrad- und Wohnmobilplage auf unseren engen Straßen.
Nicht einmal vom ständigen Stau am Kreisel, über den ich fahren muss, um zum Supermarkt zu gelangen, spreche ich.
Auch vom schrecklichsten aller Übel spreche ich an dieser Stelle nicht:
Vom Partyschiff, das die Anrainer des gesamten Seebeckens samstags mit seinen Bassrhythmen quält, von Locarno bis Dirinella, von Magadino bis Cannobio.
Hier spreche ich vom zuweilen seltsamen Verhalten der Touristen:
Sie sind auf Entspannung gepolt und nehmen die gesamte Gegend und alles was darinnen ist, als ihr Wohnzimmer.
Im überfüllten Supermarkt kommt zuweilen reflexartig die Fremdscham über mich.
Nicht wenn junge schöne Mädchen im Bikini kommen. Da könnte ich als ältere Dame noch anerkennend nicken ob der schönen Beine und der straffen Haut.
Doch wenn ältere Damen eine derart kurze Hemdbluse tragen, bei dem die Pofalte (meist schon mehrere) zu sehen ist, muss ich an mir runterschauen, um mich zu vergewissern, dass ich jedenfalls untenrum was anhabe.
Wenn der ältere Herr unbedingt das verschwitzte Hemd offenlassen muss, damit man seinen bierbedingten Schwangerschaftsbauch mit dem ausgestülpten Bauchnabel sehen muss, wende ich mich schnell dem Kühlregal zu.
Bauchnabel ist das Stichwort.
Omphalos. Das ist die griechische Bezeichnung für den Mittelpunkt der Welt und den Ursprung aller Dinge.
Jedes Volk der Frühzeit hatte seine eigene Version von der Großen Göttin als weltumfassendem Geist.
Sie hatte einen Haupttempel am Mittelpunkt der Welt. Dort wurde in der Regel ein Stein platziert: der Omphalos.
Den Nabel der Welt legten die Römerinnen an den runden Herd der Göttin Vesta, die Griechinnen siedelten ihn am omphalos in Delphi an. Für die Juden befand er sich am Tempel Zions in Jerusalem.
Die Hebräer nannten ihn Beth-El: die Wohnstätte der Gottheit. Dort wohnte ein männlicher Gott inmitten der Göttin, denn er war ihr Kind.
In vorchristlicher Zeit war der Mittelpunkt der Welt dort, wo sich Gott und Göttin trafen. Entsprechend war dieser Ort mit den üblichen sexuellen Symbolen ausgestattet.
Hier im Tessin und gewiss auch andernorts, deklarieren sich die Touristen selbst als Nabel der Welt und symbolisieren dies auf Schritt und Tritt.
Die Einheimischen derweil, betrachten das Spektakel schweigend und freuen sich auf den Herbst.
Ich wünsche Ihnen ein wunderschönes Wochenende. Genießen Sie den Sommer!
Ihre Lea Söhner