Hildegard von Bingen trifft auf Whatsapp
Zur Geschichte der deutschen Sprache – Identität in Wandlung
Von der Mystik bis zum Expressionismus wurde unsere Muttersprache geprägt durch Aufbrüche, Kriege und Umbrüche. Andererseits hat gerade auch die deutsche Sprache immer wieder eine revolutionäre Kraft entfesselt.
Dieser Text zeichnet den Werdegang der deutschen Sprache nach. Er blickt auf prägende Figuren, die sie bereicherten, und Krisen, die sie herausforderten.
Deutsch ist besonders aufnahmefähig. Darin liegt Eigenart und Gefahr zugleich. Andere, wie etwa Französisch und vor allem Isländisch setzen auf Reinhaltung und Abschottung ihrer Sprache.
Diese Liebeserklärung an unsere Muttersprache lädt ein, unser Verhältnis zu ihr zu reflektieren. Denn Sprache ist Heimat – auch in Zeiten des Umbruchs.
Hildegard von Bingen
Wer kennt sie nicht, die heilige Kräuterfrau. Sie ist nicht nur Heilerin und Nonne, sondern auch die berühmteste Vertreterin der mittelalterlichen Mystik.
Dass sie die Geschichte der deutschen Sprache mit geprägt hat, ist eher unbekannt.
Und nicht nur sie. Die Mystik des Mittelalters hat unser heutiges Deutsch stark geprägt.
Man wollte das intensive religiöse Erleben verständlich machen und in der Volkssprache ausdrücken. Die Mystikerinnen und Mystiker strebten nach einer Vereinigung der Seele mit Gott.
Religiöse Grenzerfahrungen drängen nach Mitteilung. Jeder Mensch sollte teilhaben am Entzücken ihres religiös-erotischen Erlebens, nicht nur die lateinisch sprechenden Kleriker.
Man will sich ausdrücken und doch es fehlen einem buchstäblich die Worte dafür. So hat man sie erfunden:
begreifen, bilden, einleuchten, Eindruck, Einfalt, Einfluss, Empfänglichkeit, Erleuchtung, Geistigkeit, Vereinigung all das sind Worte, die aus der Zeit der Mystik stammen.
Meister Eckhard der rebellische Dominikanermönch
Er sei in diesem Zusammenhang auch genannt. Dieser Mann scheute keine Auseinandersetzung mit seinen Vorgesetzten.
Den ungebildeten Bauern predigte er auf Deutsch. Dass jetzt auch die Ungebildeten teilhaben konnten am religiösen Streben, behagte der Kirche gar nicht.
Meister Eckhard konnte sich dem Scheiterhaufen nur durch seinen natürlichen Tod entziehen.
Doch der Ruf nach einer Sprache, die dem Religiösen und dem Lebendigen Ausdruck verleihen kann, war aber mit ihm in die Welt gesetzt und nicht mehr auszuwischen.
Martin Luther, Reformator oder Revolutionär?
Luther war rund 200 Jahre später der Meinung, dass jeder Deutsche sein Leben in seiner ureigenen Freiheit des Christenmenschen selbst bestimmen sollte. Kein Mensch braucht Kleriker, die ihm Gott vermitteln.
Luther übersetzte die Bibel ins Deutsche, und zwar vom Griechischen und Hebräischen ausgehend. Er begnügte sich nicht mit der schon ins Latein übertragenen Variante.
Doch es ging ihm nicht nur um das bloße Übersetzen der Worte. Er wollte dem Volk aufs Maul schauen, er wollte die Bibel fühlbar und begreifbar machen. Damit wurde er sicher zu einer der prägendsten Figuren für die Geschichte der deutschen Sprache.
Geizhals, Trübsal, Spitzbube, Sündenbock, Milch und Honig, Mark und Bein, Imbiss, ebenso wie Denkzettel, Feuereifer und Lästermaul – alles Worte, die Luther erfunden hat.
Die Katholiken wurden vor den Honigworten und der güldenen Zunge der Protestanten gewarnt.
Doch als die Bauern erkannten, welcher Sozialrevolutionär Jesus von Nazareth war, standen sie auf gegen die ungerechte Ordnung.
Luther hätte vermutlich sagen wollen: „Die Geister, die ich rief, werde ich nun nicht los“. Manche machten aus seinem Beispiel Schule und verbreiteten eigene religiöse Ansichten. Luther er wollte sie brennen sehen, die Häretiker. So trug auch er in den schrecklichen Zeiten der Inquisition seinen Anteil zu den Scheiterhaufen bei.
Er wird gemeinhin als Reformator bezeichnet. Wer aber das Ergebnis seines Werkes betrachtet, muss in ihm, wie Stefan Zweig das tat, einen Revolutionär sehen.
Tiefgreifende Umstürze, blutrünstige Kriege, tausende von Scheiterhaufen, Folter und millionenfacher Tod waren die Folgen von Martin Luthers Wirken.
Die Welt wurde zerrissen von religiösem Fanatismus, der schließlich in den dreißigjährigen Krieg mündete. Deutschland wurde zum Schlachtfeld der europäischen Mächte.
Am Vorabend dieses schrecklichen, nicht enden wollendes Krieges, gab es vielfältige Friedensbemühungen.
Die Fruchtbringende Gesellschaft (1617)
So bildete sich etwa die so genannte Fruchtbringende Gesellschaft, ein Zusammenschluss von Klerikern, Adeligen und Hochschulprofessoren. Ihr Zweck war es, dass sich die deutsche Sprache „ohne Einmischung fremder ausländischer Worte aufs möglichste und tunlichst erhalte.“
Man könnte denken, in so schwierigen Zeiten gäbe es Wichtigeres, als sich um Sprache und Literatur zu kümmern.
Doch die Fruchtbringer sahen ihre Arbeit als Friedensprogramm, denn die Sprache ist eine Möglichkeit, Identität zu stiften.
Wörter wie Tagebuch, Jahrhundert, Augenblick, Schaubühne wurden von den Fruchtbringern in unsere Sprache gebracht.
Doch alle Bemühungen um Frieden und Nüchternheit im religiös aufgeheizten Land konnten dem Fanatismus und der Blutrünstigkeit der Kriegsparteien nicht trotzen.
Als der nicht enden wollende Krieg nach und nach erlosch, war es der Hunger, der der ausgebluteten Bevölkerung den Rest gab.
Eine gebratene Ratte war in Deutschland mehr wert als eine Silbermünze.
Der „Westfälische Frieden“ beendete den Krieg auch offiziell und bescherte Europa eine lange Periode des relativen Friedens und des Aufatmens.
Die Weimarer Klassik
Interessanterweise kam die nächste Phase der Entfesselung deutscher Sprache zu einer Zeit, als es Deutschland wieder ausgesprochen übel erging.
Die Weimarer Klassik mit Goethe, Schiller, Herder und vielen anderen Philosophen, Dichtern und Denkern, ging einher mit der Unterwerfung und Demütigung Deutschlands durch die napoleonischen Kriege.
Wieder fanden hunderttausende junger Männer in den Feldzügen des kleinen korsischen Feldherrn ihren elenden Tod.
Während der Zeit spross und gedieh deutsches Sprachgut wie nie zuvor und nie danach. Geflügelte Worte von Goethe fliegen uns noch heute an wie kleine Löwenzahn-Schirmchen:
- Wes Brot ich ess, des Lied ich sing
- Was die Welt im Innersten zusammenhält.
- Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.
- Augenblick verweile doch, du bist so schön!
- Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.
Die entfaltete Sprache machte es möglich, dass auch Volksmärchen und Sagen auf die Hauptbühne geführt werden konnten.
Wichtiger noch als die Märchensammlung der Gebrüder Grimm, war aber deren etymologisches Wörterbuch, das bis heute das größte und umfangreichste seiner Art ist. Es wurde digitalisiert und ist heutzutage kostenlos im Netz zugänglich.
Nach dem Erste Weltkrieg die sprachlichen Schockwellen
Der Erste Weltkrieg war ein Schock, der alle bisherigen Gewissheiten zerstörte. Diese zerbrochenen Stränge der Wirklichkeit mussten von der Sprache aufgenommen, die Bruchstücke einer zerschlagenen Welt zu einer neuen Ganzheit zusammen gefügt werden.
Das war die Geburtsstunde des Expressionismus.
Der Schmerz über den Verlust des Krieges brachte eine neue, ruckartige Sprache hervor voller ungewohnter Wörter und abgehackter Sätze.
Aus diesen sprachlichen Schockwellen entstand bedeutende Literatur von großer Eindringlichkeit, wie die Gedichtsammlung „Menschheitsdämmerung“ eindrucksvoll zeigte. Der Schriftsteller Alfred Döblin verarbeitete in seinen Romanen eine neue Weltsicht, die die nun vielschichtiger gewordene Lebenswirklichkeit abbilden konnte.
Nazideutschland tanzte Swing und liebte Hollywood
Wer nun auf die Idee kommt, die Nazis hätten die deutsche Sprache geschützt und gefördert, irrt gewaltig.
Es ist gemeinhin nicht sehr bekannt, dass sich Hitler zu Beginn als Partner an der Seite der Angelsachsen sah, mit denen zusammen er die Eroberung der Eurasischen Landplatte (also Russland) anstrebte.
Deshalb wurde Hollywood zum leuchtenden Vorbild für den deutschen Film. Tanzorchester spielten Swing, auch wenn dies anders benannt wurde. Die Kultur öffnete sich demonstrativ in Richtung des gewünschten Verbündeten.
In gemeinsamen Radiosendungen von BBC und Deutschlandsender bemühten sich die deutschen Moderatoren darum, fabelhaftes Englisch zu sprechen.
Der jüdische Literaturwissenschaftler und Romanist Viktor Klemperer hat die amerikanisierte Verstümmelung der deutschen Sprache durch die Nazis in seinem Buch „Die unbewältigte Sprache“ heimlich aufgenommen.
Nachkriegszeit und Amerikanisierung
Nach dem Krieg richtete sich in Westdeutschland alles nach Amerika aus, so auch die Literatur. Es fand eine umfangreiche „Re-Education“ statt, in der als unausgesprochener Unterton mitschwang, dass Deutsch die Sprache der Mörder sei.
Die Amerikanisierung wälzte sich aus und unsere Sprache sammelt seither Anglizismen, als könne jedes einzelne englische Wort ein kleines Stückchen wieder gutmachen, was an Terror von Deutschland ausgegangen ist.
Dies ist allerdings ein geistiger Trugschluss, denn Schuldkomplexe können nicht durch Selbsthass ausgelöscht werden. Die Aufarbeitung der Nazi-Zeit ist noch nicht in Ansätzen geschehen. Wir stoßen das Schreckliche von uns, spalten es ab. Wie soll man es verdauen?
Damit eine sinnvolle Integration gelingen kann, braucht es Identität. Sprache ist, wie wir schon bei der Fruchtbringenden Gesellschaft im siebzehnten Jahrhundert gesehen haben, ein zentraler Faktor dafür.
Vielfalt der Kulturen und Sprachen
Soll die ganze Menschheit in den Einheitsbrei der anglo-amerikanischen Leitkultur eingerührt werden? So sah es zumindest eine Zeitlang aus.
Doch die Zeiten, in denen auch große Nationen wie Indien oder China Washingtons Vorgaben untertänig folgten, sind vorbei. Asiaten, Afrikaner und Südamerikaner besinnen sich auf ihre eigenen Kulturen und Sprachen zurück. Das ist gut so.
Nicht nur die Natur braucht Vielfalt, auch die Menschheit gedeiht durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Traditionen.
Kulturelle Dominanz einer einzelnen Nation führt in die Sackgasse. Erst die Wertschätzung der Unterschiede kann den Reichtum menschlichen Lebens entfalten.
Und so hat auch die deutsche Sprache und Kultur in der Welt ihren angemessenen Platz. Seien wir stolz auf sie.
Die Aufnahmefähigkeit der deutschen Sprache
Bei allen Bestrebungen, die Sprache zu erhalten, ist Deutsch eine sehr aufnahmefähige Sprache. Um sie lebendig zu halten, dürfen die fremden Einflüsse nicht einfach nur abgeschottet werden.
Die Assimilationsfähigkeit ist eine besondere Eigenart unserer Muttersprache. Vielleicht prägt die Sprache auch den Charakter der jeweiligen Menschen.
So behautet Nietzsche, dass die Deutschen das einzige Volk der Welt sei, das nicht aufhöre, sich zu fragen: was ist deutsch. Wie um die Sprache, so müssen wir offensichtlich immer wieder um Identität ringen.
Vom irrsinnigen Nazi-Deutschtum schlägt das Pendel zurzeit auf die Seite des heutigen Selbsthasses der deutschen „Antideutschen“ aus. Kein Land der Welt ist so zerrissen.
In diesem Sinn ist unsere Assimilationsbereitschaft mangelnder Selbstschutz. Im Positiven ist sie Beweglichkeit und Wandlungsfähigkeit.
Nicht erst seit der napoleonischen Zeit hat unsere Sprache Gallizismen gesammelt wie Pilze im Herbst.
Die Worte mit französischem Ursprung im Deutschen gehen in die tausende.
Wer nutzt nicht Begriffe wie:
Atelier, Bagatelle, Café, Debakel, Eklat, Facette, Gelatine, Hommage, Ingenieur, Jalousie, Konfitüre, Lektüre, Massage, Niveau, Offensive, Parlament, Quarantäne, Rebellion, Sabotage, Thermometer, Utopie, Vagabund, Wagon, Zivilisation.
Im Umkehrschluss lässt sich hier die linguistische Politik Frankreichs sehr gut zeigen:
Während wir französische Begriffe en masse integriert haben, nutzt man bei unseren westlichen Nachbarn gerade mal zehn oder fünfzehn deutsche Worte.
(blitzkrieg, waldsterben, bretzel, zeitgeist)
Die Franzosen schützen ihre Sprache vor fremden Einflüssen seit Jahrhunderten.
Hingegen ist es eine positive Besonderheit des Deutschen, dass wir uns keine Normen von oben verordnen lassen.
Es gibt keine königliche Akademie, kein „Insitute française“ auf Deutsch und auch keine Lenkung der Kultusminister.
Dies macht eine historische Kontinuität
möglich und eben auch eine Offenheit für den Sprachwandel. Insofern können wir die deutsche Sprache durchaus als basisdemokratisch und gewachsen bezeichnen.
Mit dieser Tradition hat allerdings die Rechtschreibreform 1996 gebrochen. Früher wurde die amtliche Rechtschreibung anhand der gängigen Praxis lediglich harmonisiert.
Mit der Rechtschreibreform wurde durch Politiker und Linguisten mutwillig eingegriffen. Die Neuerungen kamen nicht aus der Mitte der Gesellschaft.
Ebenso ist auch das Gendern ein vorsätzlicher Eingriff in die Sprache im Namen partikularer Interessen. Dieser wird symbolpolitisch von Vertretern aus Politik, Verwaltung, Hochschulen und Medien vorangetrieben.
Ob diese Sprach-Manipulation bis nach unten zum Volk durchgreifen wird, bleibt dahin gestellt.
Isländische Sprachschützer
Besonders kreativ und wertschätzend geht Island mit seiner Sprache um.
Isländisch ist eine Art Ursprache aller skandinavischer Sprachen. Nur auf dieser einsamen Insel konnten die uralten Wörter überleben.
Ein Sprachkomitee wacht seit vielen Jahren darüber, dass so wenig wie möglich Fremdwörter eindringen.
Der Computer zum Beispiel, ist eine Rechenhexe (tölva), der Laptop ein fartölva, Facebook ist das Fratzenbuch oder das Fressenbuch, ein Panzer ist ein kriechender Drache, der Fernseher ist ein Bildrausschicker und das Telefon ist schlicht ein Draht oder ein Faden.
Wer seine Sprache so liebt und pflegt, der kann auch mit Elfen, Zwergen und Feen sprechen.
Lassen wir uns auf unsere Art davon berühren.
Oder machen wir uns zumindest bewusst, dass Worte wirken.
Und dass es zu jedem Fremdwort eine Alternative gibt.
Und dass Fremdwörter bereichern können.
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Bildnachweise:
Beitragsbild Pixabay
Hildegard von Bingen
Meister Eckhard
Martin Luther
Fruchtbringer, Briefmarke
30jähriger Krieg
Alfred Döblin
Island
Duden
Quellen:
Zur mittelalterlichen Mystik
Fruchtbringende Gesellschaft
Alfred Döblin: Kurt Pinthus: Menschheitsdämmerung – Symphonie jüngster Dichtung. Reinbek 1959
Viktor Klemperer: Victor Klemperer: „LTI“ – Die unbewältigte Sprache. München 1969
Stefan Zweig: Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam, Wien 1934
Island
Martin Luther
Lob der deutschen Sprache
Hallo Lea, ich brauch mindestens wieder einmal diese Woche, um all deine Anregungen hinterfragend nachzuschauen, zu recherchieren, zu vergleichen. Wie schön, du hältst mich/uns in Trapp. Sei gesegnet, Karin