Sterbenlassen
Austausch über Sterbenlassen
Was ich neuerdings sterbenlassen musste, war meine Identität als Unternehmerin, als starke Frau, als Macherin. Krankheit hat mich etwas Besseren belehrt. Was ist das Leben, wenn man nicht mehr alles unter Kontrolle hat?
Wer bin ich als eine, die nicht mehr alles was sie will, auf die Beine stellen kann? Diese Fragen beschäftigen mich zurzeit. Das Leben wird weicher, tiefer, fragender.
Neue Facebookgruppe
Zusammen mit meiner Freundin, der Psychologin Beatrix Angst, habe ich die Facebook-Gruppe eröffnet, die dem Austausch und der Anregung dienen soll, sich mit dem Sterbenlassen zu befassen. Wir müssen Menschen loslassen, Arbeitsstellen und Lebenswerke. Kinder müssen ihren eigenen Weg gehen dürfen und sie haben ein Recht auf ihre eigenen Probleme, ohne dass die Eltern sich einmischen.
Manchmal wollen wir auch etwas sterben lassen. Loslassen ist Platz schaffen für Neues, Stirb und Werde.
Das Sterbenlassen kann eine Art Geburt sein wie die Walderde, die aus dem Tod geschaffen ist und doch voller Leben ist. Die Geburt ist ein schöpferischer Akt, eine Art Schöpfung ohne Konzept, ohne Arbeitsplan oder to-do-Liste.
Zu einem bewussten Loslassen gehört das Einverständnis, die Entspannung in das, was ist, sowie das Betrauern. Wenn wir diesen Prozess bewusst gehen, schaffen wir Platz für etwas Neues, für eine Neugeburt. Manchmal fühlen wir uns direkt wie neugeboren, ein anderes Mal merken wir erst nach Jahren, dass sich unser Leben verändert hat nach einem Akt des Loslassens.
Etwas sterbenlassen wollen
Die Entscheidung zu einer Abtreibung etwa, ist ein Beispiel für selbst entschiedenes Sterbenlassen. Es ist die Entscheidung, etwas nicht mehr länger mit der eigenen Lebensenergie zu nähren. Vor allem hier wird oft das Betrauern vergessen. Dies ist aber auch dann wichtig, wenn Erleichterung über die gefällte Entscheidung da ist.
Dasselbe geschieht bei Beziehungen: Das Betrauern dessen, was war, geht manchmal verloren im Streit. Vielleicht macht man den Partner oder die Partnerin verantwortlich für das Scheitern? Das eigene Unvermögen zu sich zu nehmen, wäre aber ein erster Schritt zum Trauern. Das eine gut abschließen, dass das andere, das Neue, Raum bekommt, wäre die Aufgabe.
Stirb bevor du stirbst
Es gibt Kulturen, die mit dem Tod besser umgehen können, als wir. Je mehr der Tod mit Angst behaftet ist, desto schwerer fallen auch Veränderung im Laufe des Lebens. Hier wird ein bewusster Prozess des Loslassens ein „Todkind gebären“ genannt. Damit ist nicht etwa ein totes Kind gemeint, sondern der schöpferische Prozess des Nein-Sagens, wenn man etwas beenden will. Andererseits aber auch des Ja-Sagens, wenn etwas zu Ende geht, ohne dass ich es will.
Stirb bevor du stirbst, ist deshalb auch eine spirituelle Auffassung, die uns helfen kann, ein gelingendes Leben zu führen.
Der Titel meines Buches „Die Vögel singen weiter“ ist Teil eines Spruchs von Matthias Claudius: „Wie ein Blatt vom Baume fällt, so fällt ein Mensch aus seiner Welt. Die Vögel singen weiter“.
Dem Leben, den Vögeln ist es gleichgültig, ob ein Blatt vom Baume fällt. Das Leben geht immer weiter. Und doch leben wir nicht in einer gleichgültigen Existenz. Das Bild vom Leben, das unabhängig vom Tod existiert, könnte uns dabei helfen, uns immer freier zu machen. Nicht Tod und Leben sind Gegensätze, sondern Tod und Geburt. Das Leben geht immer weiter und war schon immer.
Bildquelle: Beatrix Angst, Fotografin Claudia Rauber