WORTE WIRKEN: Ein Buchstabe für die Ewigkeit

Ein Buchstabe für die Ewigkeit

Ein Buchstabe für die Ewigkeit

„Nimm einen Flüchtling …“, riet Marias Mutter in den fünfziger Jahren.

„… dann kannst du sicher sein, dass er katholisch ist.“

Maria folgte dem mütterlichen Rat und nahm einen Flüchtling zum Mann.

Zwar war der katholisch, doch von der Kirche wollte er trotzdem nichts wissen. „Sonst war er aber ein guter Mann“, sagt Maria heute.

Der war wunschgemäß katholisch, doch von der Kirche wollte er trotzdem nichts wissen. „Sonst war er aber ein guter Mann“, sagt Maria heute.

Gerda war vier, als sie mit Frauen und Kindern zusammengepfercht in Viehwaggons aus dem Sudetenland vertrieben wurde.

Die Bilder wird sie nie vergessen. „Das kann man nicht erzählen“, sagt sie.

Elsa spricht gar nichts über ihre Kindheit. Nicht einmal die Tochter weiß etwas. Nur, dass sie aus Ostpreußen stammt.

Frieda war acht, als ihr 1946 auf der Gasse vom Bahnhof her ein zerlumpter, hinkender Mann entgegenkam. Als sie ihn erkannte, schrie sie und konnte nicht mehr aufhören: „Mei Babbele, mei Babbele.“

Silvesternachmittag im Altenheim.

Ein Grüppchen sitzt unten im Foyer, wie jeden Tag.

Im Sommer sitzt man draußen auf dem Rathausplatz. Wenn ich meine Mutter besuche, sind wir oft dabei.

Auch Frauen aus dem Dorf kommen dazu. Kein Heimprogramm. Einfach zusammenhocken wie früher.

Aber von früher, also von richtig früher, wird nicht gesprochen.

Gerda hat heute Kaffee mitgebracht und Maria die Kaffeesahne mit dem Kronenkorken. „Das ist die beste.“

Zum letzten Mal in diesem Jahr singen wir O du fröhliche.

Du, mein fröhliches O

O ist einer von fünf Vokalen und kann alles.

Ist O noch ein Buchstabe, oder schon ein Wort?

Das O drückt ein kindliches Staunen aus. O, wie wunderbar!

Man kann mit O einer Sache Nachdruck verleihen: O ja!

Das O zeigt sich, wenn wir überrascht sind. Oder auch empört.

Wie viele Lieder gibt es im Kirchengesangbuch mit O beginnen? Oder es zumindest aufweisen? Freue dich o Christenheit

O ist auch ein inbrünstiges Bitten. Wie in der Gebetszeile: Bleibe bei uns o Herr.

Das O kann tiefstes Erschrecken ausdrücken. Schmerz. Trauer.

Mehr als jeder andere Buchstabe ist das O allgegenwärtig: in der Literatur, im Sprechen, in der Liturgie. Sogar im Selbstgespräch – (so wie ich neulich bei einem Hexenschuss).

Mit einem O rief man einst Götter herbei, später auch Kaiser.

Singe den Zorn, o Göttin, so hebt die Illjas an. Das ist ein Vers-Epos, der den Trojanischen Krieg erzählt.

Ein Buchstabe  führt in die Tiefe.

Ist es nicht der kleine Buchstabe O, der uns als Mensch mit Emotionen zeigt?

Weist uns nicht das O gar als spirituelle Wesen aus? Nicht deshalb, weil es in religiösen Texten erscheint.

Vielmehr deshalb, weil das O uns lehrt, dass wir über die Geschehnisse unseres Lebens oft weniger Kontrolle haben, als uns lieb ist.

Und dass manchmal nur staunende Hingabe gefragt ist.

Ist es nicht dieser Vokal O, der uns auch als geistiges Wesen anspricht?

Der Geist will erkunden, erforschen.

Doch um die Welt zu erforschen, muss man zuerst über sie staunen können.

O ist Sauerstoff. Wie dieser durchfließt der Buchstabe O unseren Alltag, ohne dass es uns bewusst ist. Es ist nicht wegzudenken.

Man spricht auch vom A und O, dem Alpha und Omega:

Ein Ausdruck für das Allumfassende, für Gott.

Was bringt das Neue Jahr?

Fröhlich ist es heute im Foyer des Altenheims. Lachen, Scherzen, Singen.

Wie jeden Tag verabschiedet man sich um siebzehn Uhr.

Heute am Silvester, wünschen sich alle ein Frohes Neues Jahr.

„Wenn bloß koin Krieg kommt, dann isch mir alles recht!“, sagt Gerda. Die Frauen nicken und starren schweigend in die Luft.

„O – O“, sagt Maria dann und seufzt.

Im Sinne Gerdas wünsche ich Ihnen noch einmal ein Frohes Neues Jahr

Ihre Lea Söhner

Bildnachweis Deutschlandfunk

5 Kommentare

  1. Georg Hummler 4. Januar 2025 at 9:34 - Antwort

    es gibt in der katholischen Tradition im Advent die „O“ Antiphonen. Da wird der Heiland (der die Himmel aufreisst) herbeigesungen.

  2. Ernst-Dietrich 4. Januar 2025 at 11:16 - Antwort

    … in seiner zum Himmel schreienden Ungeduld eines der stärksten Adventslieder
    singt man auch auf evangelisch gerne …

  3. Andreas 4. Januar 2025 at 19:21 - Antwort

    Das „A“ darf aber auch nicht zu kurz kommen! Das wäre der positive Gegenpart!
    Grüßle von Andreas
    Dir wünsche ich ein geschmeidiges Neues Jahr!

  4. Johanna 4. Januar 2025 at 20:13 - Antwort

    Nicht zu vergessen: das große OM der östlichen Traditionen.

  5. Edwinovski 8. Januar 2025 at 21:15 - Antwort

    Oh jemene! das war mal ein O-men zur O. O wie schön!

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