WORTE WIRKEN Die Kirche im Dorf lassen
Wieder einmal musste ich in der Schule vor die Türe stehen.
Obwohl es verboten war, nahm ich dies zum Anlass, ein wenig spazieren zu gehen. In einem Garten klaute ich Kirschen.
Sofort kam der Besitzer mit dem Stock aus dem Haus und wollte mich vertreiben. Dann hielt er kurz inne und konnte seinen Augen nicht trauen: „Du bisch doch em Söhner seine“.
Legen wir einen Schleier des Erbarmens über den Ausgang der Geschichte.
Im Dorf kannte man sich halt. Das war nur manchmal gut.
Doch was ist ein Dorf überhaupt?
Das Wörterbuch der Gebrüder Grimm sagt das Dorf sei:
„eine Zusammenkunft geringer Leute auf dem Feld, aber auch die Niederlassung an einem solchen Ort, um Ackerbau zu betreiben.“
Doch wer weiß heute noch, dass es zum Dorf auch ein Verb gab:
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Dorfen bedeutete, jemanden einen Besuch abstatten oder auch einfach nur zusammenkommen. Dorf konnte also auch einfach Besuch oder Gast heißen.
Der legendäre schweizerische Schriftstellerpfarrer Jeremias Gotthelf (Uli der Knecht) schrieb noch Ende des neunzehnten Jahrhunderts:
so war ich über fünf jahre alt geworden, als wir einmal an einem sonntage dorf bekamen, was eine sehr seltene sache in unserm hause war.
Eine Dorfete war das, was heute als Hocketse bezeichnet wird. Eine Nachtdorfete war eine feuchtfröhliche Zusammenkunft, die sich in die Nacht hineinzog.
Auch nächtliche Besuche bei Mädchen wurde als dorfen bezeichnet. Später hieß es dann fensterln. Wenn ein Mädchen bereits solche Besuche annahm, sagte man: „das mädchen hat schon gedorfet“.
Doch bevor man ein Mädchen dorfen durfte, musste man sie zuerst hofieren, man musste ihr den Hof machen.
Auch Höfe gehören zum Dorf. Ein Hof ist ein eingefriedeter Platz. Das Wort hat wohl die skandinavische Wurzel gard, garth, (Garten) was soviel bedeutet wie die Erde, die ganze Welt.
So stammt der Kirchhof / Friedhof von der vorchristlichen Idee, dass ein Tempel und seine Umgebung das ganze Universum spiegelt.
So ist auch jedes Dorf ein kleines Universum gewesen.
Die Worte Dorf, Hof, Kirche, Friedhof stehen allesamt für soziales Leben, gemeinsames Arbeiten und früher auch für Schutz.
Dort wo Leben ist, darf auch die Liebe (dorfen, fensterln) und der Tod (Friedhof) nicht fehlen.
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Die Älteren unter uns haben das Dorfleben vielleicht noch kennengelernt.
Man kannte noch den Hufschmied, den Dorfladen, die Wirtschaft, das Milchhäusle, die Plätze der Dorfjugend, man wusste, wer welche Krankheit hat, welcher Junge mit welchem Mädchen „ging“ und „wem seine“ unehelich schwanger war.
Mit dem Dorfkern wurde im Lauf der Jahre auch das soziale Universum des Dorflebens entkernt.
„Was die Dörfer einst zusammenhielt“, ist ein bezauberndes Buch, das meine Bauerntöchterfreundin Ulrike Siegel im letzten Jahr herausgebracht hat.
Auch ich musste oder sollte meine Erinnerungen beisteuern. Zweimal bekam ich meinen Aufsatz zurück: einmal Thema verfehlt, das andere Mal schlechter Stil.
Beim dritten Mal hat es dann geklappt und kann in diesem Buch zusammen mit anderen interessanten Erinnerungen von Bauerntöchtern meines Alters gelesen werden.
Was die Dörfer einst zusammenhielt: Ulrike Siegel
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Ich bin Lea Söhner, Romanautorin und Bloggerin zur kulturellen Aneignung unserer eigenen Kultur.
Der Rundbrief WORTE WIRKEN erscheint jeden Samstag: Jede Woche ein Wort neu gesehen, ein Aha-Erlebnis oder ein Lächeln. Kostenlos und kalorienfrei.