Heraklit oder jenseits von gut und böse
Heraklit ist ein fast vergessener Philosoph, dabei hätte er gerade in unserer auseinanderbrechenden Gesellschaft mehr zu sagen als Aristoteles.
Auch ich gehöre zu denen, die in den Coronajahren Freundschaften verloren haben. Plötzlich war keine Verständigung mehr möglich. Dass die Spaltung so schnell ging, erschien mir fast magisch.
Nun kommt das unterschiedliche Verständnis des Ukrainekriegs hinzu. Nur eine Meinung zählt. Aus dieser Zwietracht kann keine Eintracht mehr entstehen: jeder bleibt auf seiner Seite.
Während der Feiertage ist mir ein Buch über Fragmente von Heraklit in die Hände gefallen. Vielleicht könnte uns dieser Philosoph in unseren wilden, zerbrechenden Zeiten ein wenig zur Besinnung bringen.
Hier ein kleiner Text von Heraklit:
Die verborgene Harmonie
Ist besser
Als die offensichtliche
Aus Zwietracht entsteht Eintracht,
Aus Missklang
Entsteht höchste Harmonie.
Erst durch dauernden Wechsel
Kommen die Dinge zur Ruhe.
Die Menschen sehen nicht, dass alles,
Was sich widerspricht,
Dadurch mit sich in Einklang kommt.
Es liegt Harmonie im Widerstreit,
Das zeigen Bogen und Leier.
Der Name des Bogens ist Leben,
Aber sein Werk ist der Tod
Aristoteles hat den Westen geprägt, nicht Heraklit: Logik, nicht Logos.
Logik ist das Grundprinzip hinter unserem Denken: entweder gibt es das eine oder das andere. Entweder wir haben es mit Gut oder mit Böse zu tun, mit Tod oder Leben, mit Krankheit oder mit Gesundheit, mit rechts oder links. Entweder du hast recht, oder ich.
Das Leben ist nicht aber nicht logisch. Vielmehr ist das Leben Logos. Es umfasst alles. Gut und Böse lösen sich darin auf. Goethe lässt seinen Mephisto sagen: Ich bin die Kraft, die stets das Böse will und doch das Gute schafft.
Die Logik sagt: Krankheiten sind böse, sie sind unbedingt zu vermeiden. Ewige Gesundheit ist das Ziel.
Der Logos fragt: Sind es aber nicht oft die Krankheiten, die uns reifen lassen, die uns tiefer und echter werden lassen? Und kann man nicht auch in den Tod genesen? Das heilende Ja zu dem, was ist?
Die Logik sagt entweder Leben oder Tod.
Im Logos beinhaltet das Leben schon den Tod. Alles, was lebt, bewegt sich, nirgends ist Stillstand, nirgends gibt es ein „ist“, immer nur ein „wird“.
Ein Baby wird geboren, es trägt den Tod schon in sich. Der Wald, in dem ich spazieren gehe, der Fluss, der das Land durchfließt, der Mensch, den wir umarmen: alles ist schon auf dem Weg hin zum Tod. Ist nicht die Bewegung selbst das Leben?
Die Logik will uns glauben machen, wir könnten gegen den Tod kämpfen, manche Technologen sagen, wir können ihn irgendwann besiegen. Ewiges physisches Leben. Das wäre ein Leben im Stillstand. Ist das noch Leben oder schon Tod?
Politik und Medien teilen auf: rechts hier, links dort. Die Menge dazwischen wird, so will man uns glauben machen, immer kleiner. Je nach Gusto ist links gut, rechts böse. Wer links ist, kann nicht rechts sein. So spricht die Logik.
Um Krankheit unter allen Umständen zu vermeiden, tun viele Menschen Dinge, die das Gegenteil bewirken. Sie folgen der Logik, doch Angst macht starr und krank.
Wie lässt sich Eintracht trotz Zwietracht herstellen? Wie geben wir dem Logos wieder Raum?
Lassen wir Heraklit selbst noch einmal zu Wort kommen:
Obwohl der Logos für alle gilt,
Leben die meisten so, als besäße
Jeder eine Privatintelligenz für sich.
Die menschliche Natur ist nur begrenzt intelligent
Die göttliche Natur aber, versteht alles.
Der Mensch ist kein Vernunftwesen,
Aber er ist von Intelligenz umgeben.