Geschichten vom Rand

Begleiten Sie die Figuren noch ein Weilchen. Entdecken Sie weitere Erlebnisse vom Rand des großen Erzählstranges.

Die Bilder Yvonnes Teil 1

Wie sehr ich dich finde, Helene-Bettina-Bild

Die Figur der Yvonne speist sich aus vielerlei Anregungen. Dazu gehören auch die Bilder, die sie malt.

Die Werke wurden in der Realität von der Künstlerin Irina Wolff geschaffen.

An dieser Stelle möchte ich sie als „Yvonnes Bilder“ vorstellen. Sie fanden im Buch nur teilweise Eingang. Die Textauszüge zu den Bildern sind teilweise aus dem Buch, teilweise wurden sie auch vorher gestrichen.

Das Helene-Bettina-Bild

….Dann sucht sie ihre Gedanken zusammen, um sie zu ordnen, um einen neben den anderen zu legen, davor jeweils ein Erstens, Zweitens, Drittens zu setzen, um Ordnung zu schaffen in der Rumpelkammer ihres Gehirns.

Doch seit sie angefangen hat zu malen, seit sie hier in ihrem französischen Refugium ist, suchen sie lauter Geister heim, gute und böse. Sie kichern und machen wieder Unordnung in ihrem soeben sortierten Dachspeicher. Sie werfen ihre klaren Gedanken in den Topf mit dem trüben Wasser ihrer Gefühle und hängen sie auf die Wäscheleine. Dort bleibt am Ende ein Satz hängen: Vor allem die Kinder. Dann erhebt sie sich und begibt sich auf den Heimweg. Der hängengebliebene Satz verwandelt sich und wird zu einem Vers aus der Bibel. Er geht ihr durch den Kopf, und sie kann ihn nicht verscheuchen:

Ich beschwöre euch, Töchter Jerusalems:
Stört die Liebe nicht auf, weckt sie nicht,
bis es ihr selbst gefällt
.

Morgen wird sie das Dornröschen-Bettina-Helene-Bild malen.

Sie steht um sechs Uhr auf, um das Morgenlicht zu nutzen. Und schon während sie die Leinwand schwärzt, schleicht sich Trauer in ihr Herz und sie weiß nicht warum und woher, aber sie weiß, dass sie schon vor Tagen in ihr Bardo eingetreten ist, ihren Zwischenraum.

Sie wird noch einmal hinabtauchen müssen, in die Hölle, ins Fegefeuer, weil es da offenbar noch immer geschlossene Kammern gibt, Kammern ohne Licht und Luft, mit Nattern, die an ihrer Brust saugen. Sie ist bereit. Diesmal will sie alles anschauen, egal wohin es sie führt.

Sie malt ihr Gegenstück, eine junge Frau, die gerade einem silber-weißen Schneckenhaus entwächst. Das blonde, feingliedrige Mädchen ist dabei, ihre Schutzhülle zu verlassen, und bereit zu erwachen.

Noch ist ihr Gesicht abgewandt, noch hält sie sich bedeckt, schützt sich vor den Blicken des Betrachters. Noch bleibt sie ganz bei sich, ohne die Außenwelt wahrzunehmen. Langsam wie eine Schnecke ist sie. Sie wird nicht gestört in ihrem eigenen Fluss der Veränderung.

Und auch Yvonne nimmt sich Zeit für dieses Bild, als wäre es eine Verschnaufpause, bevor es in die wirkliche Unterwelt geht. Das junge Mädchen ist weiß gekleidet wie die Frühlingsgöttin Ostara. Schimmernd verbindet sich ihr Kleid mit dem Silber des Schneckenhauses, dessen Rund an das kühle Licht des Mondes erinnert. Sie ist mit dem Mond verbunden, die Göttin des Frühlings.

Yvonnes Tränen laufen ununterbrochen, während sie malt.

Sie spürt die Trauer um ihre eigene Mädchenzeit, die nicht in diesem organischen, natürlichen Gang aufwachen durfte, sondern mit Brutalität zerstört wurde. Sie trauert darum, wie es sein sollte, wie es immer sein sollte, für alle Mädchen, und auch für Jungen, denn man soll die Sexualität nicht aufstören, bevor es ihr selbst gefällt. Sie fühlt sich verbunden mit den vielen Millionen missbrauchten und gebrochenen Kinderseelen. Sie trauert um eine vor langer Zeit zerstörte Kultur, in der die Männer Männer sein durften und die Frauen Frauen, weil alles, was ist, vom Weiblichen geboren wird und vom Männlichen besamt. Das tiefste religiöse Gebot dort lautet, dass nichts geschehen darf, was die Kinder verletzt. Der Sex ist so heilig wie die Erde, die sich von nichts und niemandem je untertan machen lassen wird.

Yvonnes Trauer wird zur Wut, als sie tiefer hineintaucht in die Welt, in der wir leben, die sich so fortschrittlich wähnt, und die doch zur seelenlosen Hölle verkommen ist. Sie weint Tränen der Hoffnung, dass Heilung immer geschehen kann, und sie weint darüber, dass Heilung manchmal nur mit dem Tod geschieht. Als sie schon fast fertig ist mit dem Gemälde, mischt sich Dankbarkeit in ihre Tränen, denn sie hatte das Glück, ein zweites Mal in das Schneckenhaus steigen zu dürfen. Sie durfte sich noch einmal verpuppen und dann in ihrem Tempo herauswachsen aus dem Schutz, versehrt und gezeichnet zwar, aber gereift. Als sie den letzten Pinselstrich setzt, ist es Abend und sie hat den ganzen Tag nichts gegessen oder getrunken.

In der Nacht kommen die Dämonen.

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