Geschichten xxx

Begleiten Sie die Figuren noch ein Weilchen. Entdecken Sie weitere Erlebnisse vom Rand des großen Erzählstranges.

Durch die Risse dringt das Licht

Paul und Doris

Eine deutsche Liebesgeschichte

Paul 1990 

Müde Augen schlagen ihn aus dem Spiegel entgegen. Was ist aus ihm geworden? Ein resignierter Dandy mit voller Brieftasche? Der alternde Charmeur aus dem Arztroman? Während er den Seifenschaum von seinen Fingern spült, denkt er an die neue OP-Schwester und ihren interessierten Blick. Er ist begehrt bei den Damen, selbst bei den jüngeren. Leider sehen sie nicht, dass er in Wirklichkeit verschlossen ist wie eine Auster auf dem Meeresgrund.

Nach jeder gescheiterten Affäre, immer wenn er nach Wochen oder Monaten von Liebe, Sex und Sonnenschein wieder allein in seinem Wohnzimmer sitzt und eine Schallplatte auflegt, versucht er in seine Leere hineinzuhorchen.

„Worauf wartest du“, hat ihn sein langjähriger Freund und Psychiater einmal gefragt. „Dass eine kommt und dich mit dem Zauberstab berührt?“

Ja, worauf wartet er? Die Haare sind grau, das tut seinem Aussehen keinen Abbruch, doch es wird nicht mehr lange dauern, da wird er einen Altmännergeruch verströmen, dagegen hilft kein noch so teures Parfum, denn ein solcher Geruch kommt nicht aus den Poren der Haut, sondern aus einem unbehausten Gemüt.

Vor seinem sechzigsten Geburtstag wird er sich wieder verheiraten. Das ist sein Versprechen an sich selbst gewesen beim Neunundfünfzigsten.

Auf dem Weg zum Auto weht ihm ein angenehmes Frühlingslüftchen ins Gesicht. Es ist ein sonniger Morgen, allerdings liegt ein Wetterumschwung in der Luft. Kurz bleibt er stehen, betrachtet zwei spielende, neckende Katzen und lächelt in Vorfreude auf sein Treffen mit Doris, auch sie werden sich heute noch necken und lieben und sie werden lachen und miteinander spielen.

Während der komplizierten Notoperation letzte Nacht war der Beschluss plötzlich da, er fiel ihm vor die Füße, leicht wie ein Blatt vom Baum: Sie wird es sein. Doris ist auf Augenhöhe. Als renommierte Wissenschaftlerin himmelt Doris ihn nicht an wie die Krankenschwester den Arzt. Sie ist wohlhabend und braucht ihn nicht als Sugardaddy. Sie ist gutaussehend, gepflegt, lustig, selbstbewusst, eloquent und sie frönen sogar einer gemeinsamen Leidenschaft: klassischer Literatur. Doch wird sie ihn auf Dauer ertragen? Wird er das Fühlen wieder lernen können mit Doris an seiner Seite? Wird sie geduldig mit ihm sein?

„Wo bist du?“ fragte sie schon in einer der ersten Wochen, als sie sich ermattet in den Armen lagen.

„Ich brauche meinen Schönheitsschlaf“, unkte Paul schläfrig. „Was denkst du dir? Ich bin ein älterer Herr!“

Zärtlich fuhr sie mit den Fingerspitzen durch seine Haare, legte sich auf den Rücken und starrte an die Decke. Paul kannte es schon, dieses sanfte Pochen an seiner fest verschlossenen Tür. Frauen beobachten ihn, vor allem nach dem Sex, versuchen seine Gedanken zu lesen und in seine Träume einzudringen, sie hoffen, ein Wort von ihm zu erhaschen oder ein Zeichen, dass er lieben kann und fühlen und dass sie es jeweils ist, die sein Eis weggeschmolzen hat.

Träge folgte er der Lebensbitterkeit hinter seinen Atemzügen, als könnte er selbst irgendwann das Undurchdringliche seines Herzens durchdringen. Da war ihm, als ertöne wie von weither Helenes zauberische Stimme. Fühlst du nicht der Liebe Sehnen, sang sie als Pamina in der Zauberflöte und während diese Arie im luftigen Schlafzimmer schwebte, spürte er, dass Helene auch als Doris sang. Fühlst du nicht meine Liebe zu dir?

Er rückte näher an sie, ohne die Augen zu öffnen. Sein halber Schlummer wiegte ihn sanft in die Tiefe, in sich hinein und dort, wo normalerweise das Herz eines Menschen ist, stand der Grabstein der Familie Schwartz, prächtig und efeuumrankt, und während er die Namen darauf las: Helene Schwartz und daneben, gleich stark verwittert, Prof. Dr. Wilhelm Schwartz, da sang Helene Paminas Arie zu Ende: So wird Ruhe, so wird Ruh im Tode sein.

Er öffnete die Augen und genoss Doris’ Haut, ihren Duft – kaum merklich, als würde ein Windhauch von einem Rosengarten hereinwehen – ihre Nachdenklichkeit und ihre verletzliche Reife. War das eine Warnung Helenes? Eine Aufforderung, endlich zurückzukehren ins Leben, auch wenn er nicht viel spürte?

Während er auf dem Krankenhausparkplatz sein Auto öffnet, ist die Müdigkeit des Nachtdienstes schon fast verflogen. Ja, Helene, sagt er lächelnd in sich hinein. Ich habe verstanden.

Doris

„Ich muss es dir erzählen!“, erschallt die fröhliche Stimme ihrer Schwester am Telefon. Sabine, ihre ungleiche, zwei Minuten ältere Zwillingsschwester, der sie früher die Hausaufgaben machen musste und die absolut keine Lust zum Studieren hatte, sondern bald nach dem Abitur den Erben des größten und teuersten Juweliers der Stadt heiratete und die trotz ihrer früheren Matheschwäche eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde.

„Dein Dr. Schwartz war heute bei uns“, sagt sie in ihrem geheimnisumrankten Klatschweiberton.

„Du kennst ihn doch gar nicht“, kontert Doris und versucht gleichgültig zu klingen. Ihre Schwester ist vierundfünfzig Jahre alt, verwaltet ein Millionenbusiness und schwatzt wie eine Pubertierende. „Er hat mit Kreditkarte bezahlt, meine Liebe und er hat einen unserer schönsten Verlobungsringe gekauft!“

„Dann weißt du sicher auch, wer die Glückliche ist.“

„Hey kleine Schwester! Jetzt hast du keinen Grund mehr zum Jammern, dass du nie den Richtigen findest.“

„Dann muss ich mir eine andere Lebensaufgabe suchen, wenn ich nicht mehr jammern darf.“ Sie will ihre Schwester losbekommen, will sich unter die Dusche stellen, einen Tee trinken und sich dann die Decke über den Kopf ziehen, auf jeden Fall will sie für sich sein und ja – schön, dass sie es jetzt weiß, dann steht sie nicht wie ein überraschtes Mädchen vor ihm, wenn er ihr wider Erwarten einen Heiratsantrag macht.

Jahre hat sie damit verbracht, ihre Wunden zu verstehen. In Gruppentherapien hat sie ihre Wut herausgeschrien, in Einzelsitzungen ist sie ihrem inneren Kind begegnet und in beidem hat sie die Schatten ihrer Vergangenheit durchleuchtet.

Das alles hat sie getan, um herauszufinden, warum sie keine feste Beziehung zustande bekommt. Die feste Beziehung fehlt noch immer, aber ihre Wahrnehmungsantennen sind gereinigt und unbestechlich geworden – für den jeweiligen Mann neben ihr wie auch für ihre eigenen Muster.

Sie ist wissenschaftliche Beraterin eines pharmazeutischen Unternehmens und hatte vor drei Monaten einen Vortrag vor einer Gruppe von Chefärzten zu halten. Als gerade die Pause zu Ende ging, während die Männer (es waren nur Männer) wieder an ihren Platz in der Tischrunde zurückschlenderten, plaudernd, eine Hand in der Hosentasche, blätterte sie in ihren Notizen und strich sich gedankenverloren mit der linken Hand über den Nacken. Die Haare hat sie bei geschäftlichen Anlässen immer hochgesteckt. Sie muss mit dem Ring an den Verschluss des Goldkettchens gekommen sein, es löste sich und fiel ihr in den Schoß. Unauffällig schob sie es unter ihre Arbeitsmappe.

Am Ende des Vortrags, die Zuhörer hatten teilweise schon den Raum verlassen, nahm sie das Kettchen hervor. Der Verschluss war in Ordnung.

„Darf ich Ihnen helfen“, fragte er, als sie es sich gerade umlegen wollte.

„Gerne.“ Schon im Augenblick, als er das Collier in die Hand nahm, explodierten ihre Zellen. Mit der Achtsamkeit eines vollendeten Gentlemans legte er es ihr um den Hals, mit der Präzision eines Chirurgen schloss er den Karabiner und der halbe Augenschlag, den er länger als notwendig an ihrem Nacken verweilte, verriet den Liebhaber.

„Danke“, sagte sie und als sich ihrer beider Lächeln trafen, war nicht die geringste Spur von Flirt in seinen Augen. So plump war er nicht, der Herr Dr. Schwartz.

Am Abend rief er im Hotel Steigenberger an und lud sie auf einen Drink an der Hotelbar ein.

Noch etwas hat sich durch ihre Therapiedurchläufe geändert. Sie fühlt ihre Liebe, doch sie fühlt sie als Schmerz. Oder liegt es an ihm? Ist er es, der sie an dieser Stelle berührt, wo sie sich früher nicht berühren lassen konnte? Ist er endlich da, ihr Traummann?

Die Himmelhochjauchzend-Phase war noch lange nicht vorbei, als sie schon in den ersten Wochen neben ihm wach im Bett lag, der uralten weiblichen Wunde folgend: Er liebt vor dem Sex, sie nach dem Sex. Nur leider ist er da im Tiefschlaf, während sie den entspannten Rhythmen seines Atems lauscht und mit ihren emotionalen Fühlern das sich längst wieder geschlossene Schneckenhaus ertastet.

Vorher, als die Lust seine Kontrolle verflüssigte, da hatte für Sekunden sein Wesen manchmal hindurchgeblitzt und das war von solcher Schönheit, dass man ihn nur noch lieben will.

Doch das Schneckenhaus des Dr. Paul Schwartz ist nicht aus zerbrechlichem Kalk. Es ist versteinert.

Paul

Der milde Frühjahrswind spielt mit dem Staub, jagt ihn zu leichten Wölkchen auf, so leicht wie es Paul zumute ist, als er vom Juwelier durch den Stuttgarter Stadtpark nachhause spaziert. Am Teich vor dem Großen Haus macht er kurz Halt. Du wirst froh sein, da oben, sagt er in einer lustigen Eingebung zu Helene.

Leicht wie ein Vögelchen liegt auch der Ring in seiner Tasche. Wir kennen uns ja kaum, wird Doris vielleicht gespielt abwehrend sagen. Ich wüsste keine bessere Art, sich kennenzulernen, wird er ihr entgegnen. Sie werden sich zusammenfinden, vielleicht werden sie sich von Zeit zu Zeit verletzen, ganz sicher werden sie das tun, aber da sie um ihre Zusammengehörigkeit wissen und dass sie sich gegenseitig aus der drohenden Alterseinsamkeit gerettet haben, werden sie sich wieder und wieder versöhnen und sich immer mehr füreinander öffnen.

„Du hast heute Abend eine Verabredung im Fenice“, sagt er am Telefon.

„Gut, dass ich davon erfahre.“ Ihre Stimme klingt freudig überrascht.

„Um halb acht.“

„Und mit wem werde ich das Vergnügen haben?“

„Mit deinem Liebsten.“

Als erstes sieht er Wolfgang. Ausgerechnet heute! Mit freundlichem Hallo begrüßen sie sich erstaunlich fröhlich, doch sein Sohn kann seinen kleinen Schuss Genervt-Sein nur schlecht verbergen.

Und die Dame! Ist es möglich Stern der Sterne?… ach was geht ihm für dummes Zeug durch den Kopf. In besonders emotionalen Verblüffungsmomenten fallen ihm oft Goethefragmente ein, schnell schiebt er sie zur Seite. Das Leuchten hinter ihren Augen verrät, dass auch sie weiß, wer vor ihr steht. Glitzerndes, heimliches Wiedererkennen, der Sohn merkt nichts, tut empört, ist jungenhaft stolz auf seine blendende, reife Geliebte und schon fließt der Atem wieder in Paul ein. Wie schön sie noch immer ist. Und wie elegant sie geworden ist. Dann folgt er Wolfgangs Blick, wendet sich halb nach hinten, da steht Doris schon bei ihm und als Paul sie vorstellt, begrüßt Wolfgang sie mit einer angedeuteten Verbeugung und den Händen auf dem Rücken. Seine Augen spiegeln höfliche Abneigung.

Kannst du dich nicht besser beherrschen, du Flegel, geht Paul durch den Kopf und er hofft, dass seine eigenen wütenden Gedanken nicht durch die Falten seines frisch rasierten Gesichts schlüpfen.

Auf dem Weg zu ihrem Tisch hat er zu tun, um seinen Aufruhr niederzuringen und als sie sich gegenübersitzen, schafft er es, Doris herzlich anzustrahlen. „Wunderschön siehst du aus“, sagt er.

„Danke.“

Bemühte Freundlichkeit liegt zäh auf dem Tisch. Die Worte, die sonst so flink und scharfsinnig zwischen ihnen hin und herspringen, leichte Kobolde, neckend und foppend, verstecken sich in den Knicken der kunstvoll zusammengelegten Stoffservietten.

„Jetzt habe ich immerhin deinen Sohn kennengelernt“, sagt sie und scheint zufrieden damit zu sein, denn in die Familie des Geliebten einzudringen ist wie eine Initiation. Nicht mehr unverbindlich und frei flottierend ist man miteinander, vielmehr wird man als Paar wahrgenommen und wenn man sich dann wieder trennt, muss man das zumindest jemandem mitteilen.

„Mein Sohn ist ein Flegel.“

„Er ist aus dem gleichen Holz geschnitzt.“

„Bin ich etwa ein Flegel?“

„Einer mit besten Manieren. Wie dein Sohn“, sagt sie und lächelt, doch ihr Lächeln wirkt angestrengt. „Wer bin ich für dich?“, setzt sie ohne Vorwarnung nach und blickt ihm mit weit offenen Augen ins Gesicht.

„Wie meinst du?“ Er hofft, dass seine Stimme nicht ausweichend klingt.

„Du hast mich als deine liebe Verabredung vorgestellt.“

Jetzt genau wäre der perfekte Moment, den Verlobungsring aus der Jackentasche zu ziehen und ihr zu sagen, sie sei viel mehr als eine flüchtige Verabredung, sie sei seine Zukunft und mit ihr wolle er alt werden. Doch das Etui liegt wie Blei in seiner Tasche, es gelingt ihm nicht, die Hand zu bewegen, hineinzugreifen, es herauszuholen und sich wieder leicht zu fühlen wie heute Vormittag das Staubwölkchen im Frühlingswind.

„Gib mir eine Sekunde“, antwortet er und schließt kurz die Augen. „Das überraschende Treffen mit meinem Sohn hat mich gerade beschäftigt“, sagt er dann und als die Worte auf dem Tisch liegen, weiß er, dass es stimmt. Die Begegnung mit dieser Yvonne ist das eine, aber das schlecht verhohlene Ressentiment Wolfgangs gegenüber Doris verstört ihn regelrecht. Was bildet dieser Kerl sich ein. Lässt sich monatelang nicht blicken, hält ihn auf Distanz, spricht seit Jahr und Tag nur das Nötigste und Höflichste mit ihm und jetzt, in ein paar Sekunden erlaubt er sich ein Urteil über die Beziehung seines Vaters.

„Ihr habt nicht das innigste Verhältnis“, bemerkt Doris und Paul ist unendlich dankbar, dass sie nicht auf ihrer erste Frage besteht: Wer ist sie für ihn? Denn was vorhin noch fest und greifbar war, bekommt auf einmal Risse. Er richtet sich im Stuhl auf, als könnte er damit auch seine in Unordnung geratenen Gedanken aufrichten, einen über dem anderen wie seine Wirbelsäule.

„Das kann man so sagen“, gibt er heraus. „Er ist mir schon als Kind entglitten. Ich glaube, ich habe viel versäumt als Vater.“

Gerade als das Wort Vater aus Pauls Mund strömt, hört er in seiner Stimme die Stimme seines eigenen Vaters wie aus einer Gruft. Das nächtliche Bild schiebt sich vor seine Stirn, Vaters müder Blick, die Tränensäcke zu einer Art deutschen Wellenbarocks verschwimmend, die Augen aufgerissen, ein tödlich getroffenes Tier, schuld als Tübinger Naziprofessor am Tod von tausenden von Gehörlosen – euthanasiert aufgrund seiner medizinischen Leidfäden, schuld an der Vertreibung jüdischer Wissenschaftler von der Uni und schuld am Schicksal von Helenes Eltern.

Er blinzelt kurz, um die dunklen Erinnerungen abzuschütteln. Seit Jahren hat er nicht mehr an seinen Vater gedacht.

„Manieren hat dein Sohn ja wohl mit der Muttermilch aufgesogen.“ Doris holt ihn zurück in die angenehme Atmosphäre des Restaurants. In den Gläsern, gefüllt mit bestem Wein, spiegelt sich das warme Licht.

„Leider eben nicht“, antwortet er und atmet durch.

„Du meinst, weil er nicht verhehlen konnte, dass ich nicht sein Typ bin?“

„Wenn du es so formulieren willst“, antwortet Paul und weiß nicht, ob er froh sein soll, dass sie es so direkt ausspricht.

„Ich fühle mich nicht besonders tangiert“, bekräftigt sie mit ruhiger Miene. „Seine Abweisung galt dir, wenn ich das so sagen darf.“

„Was meinst du?“ Diese Zwischenfrage muss er stellen, um sich Zeit zu geben, sein inneres Wanken auszubalancieren.

„Ihr seid zu gut erzogen oder zu verletzt, um euren Konflikt direkt auszutragen. Vielleicht ist der Konflikt auch schon zu alt und überwachsen. Er kennt mich nicht, ich bin nicht hässlich und wenn, was täte es zur Sache? Er nimmt mich – ohne es selbst zu wissen, notabene – als Stellvertreterin.“

Was gerade noch ein kleiner Riss war, beginnt zu bröckeln und das hat nicht das Geringste mit Doris zu tun und doch sehr viel mit ihrer gemeinsamen Zukunft. Wie soll er seine Gedanken sortieren und was hat Wolfgang mit Doris zu tun? Sie sind sich ähnlich, sein vierunddreißigjähriger Sohn und er. Wir irrlichtern in der Frauenwelt umher, geht ihm durch den Kopf, suchen dort wieder und wieder den Anschluss ans Leben und bleiben doch einsam zurück. Warum zieht er nicht gerade deshalb den Ring aus der Tasche? Kurz berührt er seine Jackentasche, nicht um ihn herauszunehmen, sondern um die physische Existenz seines Willens zu spüren und seiner Verwirrung Herr zu werden.

„Kennst du seine Begleiterin, diese Yvonne?“, fragt Doris in seinen Aufruhr hinein.

„Woher sollte ich?“, kontert er einen Tick zu rasch. Ihre Augen reflektieren seine Lüge und auch, dass er es gesehen hat, wie ein Spiegel im Spiegel. „Ich hatte nur den flüchtigen Eindruck einer vagen Bekanntheit“, setzt er in gestelztem Ton nach. Sein Schiffchen ist in Seenot.

Doris

Ihr fröhlicher Schwung verschwindet mit dem Windzug der sich schließenden Tür, als sie die Schwelle des Fenice überschreitet. Paul hat offenbar Bekannte getroffen. Sein Sohn. Unverkennbar. Der hat eine Dame an seiner Seite – deutlich reifer an Jahren als er.

Als seine „liebe Verabredung“ stellt Paul Doris vor, da erkennt sie, dass ihre Wahrnehmung sie nicht im Stich gelassen hat und dass auch diese Hoffnung auf Liebe und Beziehung wieder in sich zusammenfallen wird wie das Zitronensorbet, das der Kellner am Nachbartisch gerade flambiert.

Doch wo die Not am größten, sagt Hölderlin, da wächst das Rettende auch und das Rettende kommt gerade als klare, kühle Kraft. Sie wird nicht zusammenschmelzen wie das Eis in der Silberschale. Sie wird das hier durchstehen. Sie wird alles beobachten. Sie wird zusehen, wie er fällt und warum und sie wird erst zuhause in der Badewanne zusammenbrechen und dann wird sie auch ihr eigenes Problem erkannt haben.

Natürlich hat er den Ring dabei, das sieht sie an der flüchtigen Berührung seiner Jackentasche mit der flachen Hand, bevor er den mittleren Knopf seines Jacketts öffnet, um Platz zu nehmen.

Aufrecht, doch keinesfalls steif sitzt er vor ihr, eine Hand dezent auf dem Hosenbein, die andere locker an der Tischkante. Niemals würde er den Manschetten seines Hemds erlauben, mehr als einen Zentimeter aus dem Jackenärmel herauszuschauen. Selbstverständlich benutzt er Ärmelhalter. Die elegante Balance zwischen Hemd und Anzug ist aufeinander abgestimmt bis ins kleinste Detail. Das haben sie gemeinsam. Auch für Doris muss alles in penibler Ordnung gehalten werden, denn wie der ihre, ist auch Pauls Lebenslauf an einem schicksalhaften Tag zerbrochen oder zumindest aus dem Zusammenhang gefallen. Seither versucht ihr Organismus wie ein beschädigter Kompass an jedem Tag, mit jeder Bewegung, mit jedem Wort, sich wieder zu norden.

Die kleine Lüge wegen dieser Dame verzeiht sie ihm, doch die Scham in seinen Augen tut ihr weh und das ist gefährlich, denn sie muss ihre Kühle behalten, um diesen Abend mit Anstand zu überstehen.

„Es wäre plumpe Küchenpsychologie“, sagt sie, um den peinlichen Augenblick zu verwehen, „wenn man die Wahl deines Sohnes als Muttermangel auslegen würde.“

Sinnierend starrt Paul auf den Tisch. Die Vorspeise wird serviert. Das muss ihm gelegen kommen.

„Und wie könnte man es noch auslegen?“, fragt er mit belegter Stimme, nachdem er ein paar kleine Bissen genommen hat.

Sie antwortet nicht gleich, nimmt selbst noch etwas vom feinen Parmaschinken in den Mund, kaut, schluckt und blickt auf. „Als Vaterschmerz. Als Vaterwut. Als unbewusste, auftrumpfende Rivalität, zum Beispiel.“

Paul schwenkt seinen Blick einen Wimpernschlag lang zum Fenster und zurück, dann sieht sie den Erdrutsch hinter seinen Augen und seine äußerste Not.

In diesem Moment kommt es ihr vor, als spannte sich ein Eisenring um ihre Brust und nähme ihr die Luft zum Atmen, in ihren Inneren schreit ein sechsjähriges Mädchen, Papa, Papa, was ist? Papa fasst sich an seinen Hals, versucht von seinem schweren Bürostuhl aufzustehen, Papiere segeln herunter, Papa, Papa, da kracht Papa auf den Boden wie ein gefällter Baum. Die Uniform mit den schönen Knöpfen sitzt makellos unter seinem leblosen Gesicht.

Und jetzt greift dieser vornehme Mann ihr gegenüber an seine Krawatte, als würde er damit vertuschen wollen, dass er sich an den Hals greift, um seine unfassbare Trauer nicht herausbrechen zu lassen, denn sie würde auch ihn fällen wie einen Baum.

Sie schließt die Augen. Da sitzen sie sich gegenüber und halten sich gegenseitig aufrecht wie zwei hohle Bäume. Er fängt sich wieder. Auch sie.

„War alles in Ordnung?“, fragt der Kellner, als er die beiden halb gegessenen Teller mitnehmen sollte.

„Hervorragend Alessandro“, antwortet Paul mit verbindlicher Stimme.

Gerade ist das junge Paar im vorderen Teil des Restaurants aufgestanden. Dieser Wolfgang winkt jovial zum Abschied, seine Begleiterin huscht mit den Augen von Paul zu Doris – nur ein Wimpernzucken lang. Weniger wache Geister als Doris hätten die Geste nicht zu erfassen vermocht. Diese Frau sieht alles und weiß alles, blitzt ihr durch den Kopf.

Als sie dann Pauls kurzen, aber großen Blick auf die schwindende Geliebte seines Sohnes sieht, kommt es Doris vor, als hätten die Augen dieser Yvonne auch ihre Augen geöffnet und jetzt erkennt sie das ganze Bild.

Ihre plötzliche Klarsicht gibt ihr die Stärke, sich aufrecht zu erhalten, denn nicht nur ihn sieht sie, sondern auch sich, wie sie viele Jahre nach dem Tod ihres Vaters die 68er-Unruhen dazu nutzte, ihn zu hassen ob seines hohen Offiziersrangs bei der Wehrmacht, wie sie sich in die freie Liebe gestürzt und sich wieder und wieder verletzt hat, nur um ihren Vater zu verletzen oder sich für sein frühes Sterben zu rächen.

In Pauls Verzweiflung erkennt Doris ihre eigene Not. Wenn ihre Begegnung nur einen Sinn hat, dann diesen. Als sich ihre Augen begegnen, liegt in beider Blicken dasselbe Elend.

„Du bist heute nicht gekommen, um mit mir Schluss zu machen, oder?“, fragt sie fast flüsternd.

„Nein.“

„Aber jetzt ist es so gekommen, dass wir Schluss machen, nicht wahr?“

Er schließt die Augen und als er sie wieder öffnet, nickt er vage und sagt: „Früher wusste ich, wie man liebt.“ Seine Stimme ist rau und von unter dem Hemdkragen ziehen sich rote Flecken seinen Hals empor. „Es ist mir abhandengekommen.“ Er nimmt ein weißes Tuch aus der Hosentasche und wischt sich damit über die feuchte Stirn, dann immer wieder über die Augen.

„Als du dich vor vielen Jahren von deinem Vater abgeschnitten und ihn damit in den Suizid getrieben hast, hast du deinem Kind den Großvater genommen.“ Ruhig setzt sie ihm diesen Satz vor wie ein bitteres Gericht. Paul sackt in sich zusammen. Weder will sie ihn retten, noch will sie sich rächen, nur ihr Mitgefühl muss sie unter Kontrolle halten. „Sein Großvater bedeutete Wolfgang alles, weil die Mutter schon tot war“, fährt sie nicht ungerührt fort.

„Ja“, antwortet Paul. Sein Tuch hat er noch immer in der Hand und wischt sich über die Stirn. Kein eleganter Themenwechsel folgt, wie sonst so oft, auch kein ausweichendes Wort.

„Wie du dich von deinem Vater, so hat dein Sohn sich von dir abgeschnitten.“ Pauls noch tieferes Zusammensacken sticht Doris ins Herz. „Übrig blieben zwei entwurzelte, heimatlose Männer“, setzt sie trotzdem nach. Säße er nicht auf dem Stuhl, ginge er vermutlich in die Knie vor dem Schmerz der Wahrheit, doch jetzt endlich scheint er bereit zu sein, ihn zu fühlen. „Deine Schuld erlaubt dir nicht, glücklich zu sein, bevor dein Sohn glücklich ist.“

Paul nickt und fasst sich wieder an seine Krawatte, richtet sich im Stuhl auf, nur um gleich wieder einzusinken.

„Es wird für dich keine Frau geben, die dir nicht deinen Sohn zurückbringt“, endet sie schließlich.

Wieder nickt Paul und jetzt erscheint etwas Neues in seinen Augen. Keine Hoffnung. Eher ein Erkennen. Sein rechtes Lid zuckt. Ihr ist, als hätte er ihr für die Dauer dieses kleinen Moments einen Blick in seine Untiefen gewährt.

Er öffnet sich, geht ihr durch den Kopf. Er wäre bereit, seine Abgründe auszuloten, sie könnten zusammen ihren Weg gehen und miteinander wachsen. Wie ein verzweifeltes Tierjunges klammert sie sich an den dünnen Ast. Ihr Blick wandert zum Fenster, wo hoffnungsvoll die städtischen Lichter in der Dunkelheit tanzen. Vielleicht ist ihre Liebe noch zu retten. Vielleicht ist gerade dies hier der Anfang von etwas Echtem. Sie liebt diesen Mann bis über alle Grenzen. Noch vor einer Minute lag ihr eigener emotionaler Krater unüberbrückbar vor ihr. Illusionslos sah sie, dass ihre gemeinsame Geschichte hier enden wird, doch nun versucht sie mit beiden Händen den winzigen Keimling der Hoffnung zu schützen.

Dann legt Paul langsam seine geöffnete Hand auf den Tisch. In seinen Augen liegt etwas Weiches, aber Entschlossenes.

„Habe ich dich verloren?“, fragt sie und die Buchstaben ihrer Worte zerfallen zu Staub. Seine Hand bleibt auf dem Tisch liegen, doch er nickt. „Ja“, sagt er leise.

Sofort wendet sie sich ab, weiß nicht, wohin sie ihren Blick wenden soll, der Tisch, an dem dieser Wolfgang und seine Begleiterin saßen, wird gerade von neuen Gästen besetzt, die dezente Beleuchtung des Restaurants kommt ihr plötzlich falsch vor, wo sie doch gerade dabei waren, helles Licht in ihr Leben zu lassen. Hass anstatt Liebe wallt in ihr auf, heiß und kaum zu bändigen. Sie ballt ihre Faust. Sie will ihm die Maske der Höflichkeit vom Gesicht reißen, hineinschlagen will sie in seine so heuchlerisch geöffnete Hand, er will als der Versöhnliche dastehen, der trotz allem Haltung bewahrt. Das Rettende, ruft sie verzweifelt fordernd dem alten Hölderlin innerlich zu. Wo ist es jetzt? Anstatt zu schreien, schließt sie die Augen und lässt die Luft tief in sich einsinken. Mit ihrem Atem strömt ihr die Kraft zu, hinter dem Hass ihren Schmerz zu spüren und sie nimmt sich die Zeit, zu betrachten, wie er sich in sie einbrennt und sich ausbreitet und je tiefer sie ihre glühende Wunde spürt, desto freier fühlt sie sich. Ihre verkrampfte Faust öffnet sich, als würde sie etwas loslassen. Mit weiteren Atemzügen fließt stückchenweise Ruhe in sie und dann die vorsichtige Bereitschaft, ihre Hand in die seine legen.

Seine Augen sind wie zerbrechliches Glas. Auch er ist wund. Jetzt im Abschied haben sie sich endlich erreicht.

Langsam zieht sie ihren Arm zurück, strafft die Schultern und während sie ihn bittet, ein Taxi für sie rufen zu lassen, webt sich in die Wucht ihrer Trauer etwas Feines, Lichtes, das von weiß woher zu kommen scheint, eine Empfindung, fremd und vertraut, als hätte tief in ihr etwas auf diesen Moment gewartet. Die vielfältigen Düfte des Restaurants ziehen in ihre Nase, das leise Lachen der anderen Gäste dringt an ihr Ohr, sie spürt den frischen Windhauch von der sich öffnenden Eingangstür, alles ist klar und rein und lebendig, als hätte sich eine unsichtbare Hülle um sie geöffnet. Mit jedem Atemzug strömt etwas Neues in sie hinein. Ist es das? Ist das das Rettende von dem Hölderlin spricht? Ist es das Leben selbst, das ihr zeigt, dass es immer weitergeht?

Paul

Wie zwei glühende Streichhölzer brennen die Rücklichter ihres Taxis in seinen Augen. Der Frühlingswind, der heute Vormittag noch liebkosend mit dem Staub gerauft hat, schwingt sich auf zu einem unsanften Wehen und Reißen, und zerrt sogar feinen Nieselregen mit sich. Ein weiteres Taxi hält, will Paul eine Fahrt anbieten, kurz zögert er, doch er nimmt lange Schritte in Richtung der Halbhöhenlage, wo er wohnt. Ein weiteres Zögern am Schlossplatz, dann entschließt er sich, eine Nachtwanderung zu machen bis hinauf zum Dornhaldenfriedhof. Eine gute Stunde braucht er mit seinen eleganten Schuhen und als er vor dem Grab steht, nadelt ihm der feine Regen schmerzhaft ins Gesicht. Der Wind hat sich zu einem Sturm ausgewachsen, er reißt an Pauls leichtem Mantel, lässt die Hosenbeine flattern, treibt ein unsanftes Spiel mit ihm, als wolle er seine Wurzeln ausreißen.

Die noch winterlich nackten Baumkronen schlagen im Wind ihre Äste zusammen, als würden sie mit tausend Knochen klappern. Tausende von Toten hat sein Vater auf dem Gewissen. Wie soll der Sohn wieder anknüpfen und den Vater Vater nennen, damit sein eigener Sohn auch ihn wieder Vater nennen kann?

Er setzt sich auf die Friedhofsbank. In kurzer Zeit ist die kalte Nässe bis auf seine Haut durchgedrungen, doch all das tut ihm seltsam gut. Er friert, also lebt er. In der vom Wind aufgepeitschten Stille des Friedhofs kommt es ihm auf einmal vor, als höre er die helle Stimme seines achtjährigen Wolfgangs, als sie damals im Sonnenschein nebeneinander am Grab seiner Mutter standen. „Wenn du einmal mit Opa hier drin liegst, könnt ihr nicht mehr sprechen“, sagte der Kleine mit seiner glockenhellen Stimme, während er ungeduldig an der Hand seines Papas zerrte.

Paul schließt die Augen und fühlt die Liebe zu seinem Sohn, wie man sie nur zu einem Kind haben kann und jetzt sammelt sich das Wasser, das seit einer Stunde auf ihn einprasselt, in seiner Kehle und zum ersten Mal, seit er selbst Kind war, kann er weinen und er weint leise wie ein Kind. Später steht er auf, nimmt einen Kieselstein vom Weg und legt ihn auf das Grab. „Vater“, sagt er. „Ich bin nicht verantwortlich für deine Taten. Es ist auch nicht an mir, dir zu verzeihen. Aber ich bin dein Sohn.“

> Wiederfinden | > Hintergründe | > Geschichten | > das Buch im Forum

Hinterlasse einen Kommentar